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Bücherfrühling: Interview Katharina Hagena

„Wir dürfen alles singen, solange wir unsere Stimme kennen“

In ihrem Buch „Herzkraft“ beleuchtet Bestsellerautorin Katharina Hagena das Phänomen des Singens aus sehr persönlicher Perspektive.

vonSören Ingwersen,

Frau Hagena, Sie haben als begeisterte Chorsängerin ein Buch über das Singen geschrieben. Gibt es nicht schon genügend Bücher, die dieses Thema behandeln?

Katharina Hagena: Vielleicht, aber das gab mir auch die Freiheit, nur über solche Dinge zu schreiben, die mich selbst zutiefst berühren. Dazu gehören die Singvögel genauso wie James Joyce, das Obertonsingen im Studentenwohnheim oder der Bestatter in Woody Allens Film „To Rome With Love“, der Opern nur unter der Dusche singen kann.

Singen war während der Corona-Jahre ja ein schwieriges Feld …

Hagena: Auch deshalb habe ich das Buch geschrieben. Singen war lange verboten und ist regelrecht in Verruf geraten, was meinem Allgemeinzustand überhaupt nicht guttat. Dabei ist das Singen gerade in Krisenzeiten etwas, wodurch man wieder zu sich selbst zurückfinden und vieles auffangen kann.

Nach „Der Geschmack von Apfelkernen“ – ein Bestseller, der für das Kino verfilmt wurde – haben Sie sich auch schon in Ihrem zweiten Roman „Vom Schlafen und Verwinden“ mit dem Singen beschäftigt …

Hagena: Die Figuren singen in einem kleinen Ensemble „Come, Heavy Sleep“ von John Dowland. Ich hatte zuvor ein Dowland-Ensemble gegründet, weil ich wissen wollte, wie es sich anfühlt, dieses Lied vierstimmig zu singen. Es fühlt sich gut an! Das Buch ist längst geschrieben, aber Dowland singe ich immer noch. Singen und Schreiben sind für mich sehr eng miteinander verbunden. Bei beidem geht es um die gleichen Dinge: Rhythmus, Atem, Wahrheit und das Finden der eigenen Stimme.

In „Herzkraft“ leiten Gedichte von Friedrich Hölderlin bis Ingeborg Bachmann die durchweg kurzen Kapitel ein …

Hagena: Dadurch entwickelte sich beim Schreiben wirklich eine Form von Singen. Ich konnte pausieren, wenn es nicht weiterging, und wieder Luft schöpfen. Wenn man zu lange hohe Töne singt und sich zwischendurch nicht entspannt, ist das wie eine Maulsperre. Im Frankfurter Senckenberg Museum gibt es eine ausgestopfte Anakonda, die beim Versuch, ein Wasserschwein zu verschlucken, verendete. Bei Liedern, die überhaupt nicht mehr runterkommen, muss ich immer an diese Schlange denken und dann unbedingt eine Pause machen. Danach kann ich die Phrase wieder völlig entspannt runtersingen. Beim  Schreiben dieses Buchs bildet jedes Kapitel eine auf meinen Atem geschriebene Phrase. Das war ein von Anfang bis Ende beglückendes Gefühl, was ich so noch nie hatte.

Zu Beginn Ihres Buchs schreiben Sie: „In der Stimme, singend oder schreibend, tritt dein Innerstes nach außen“. Könnte man nicht einwenden, dass das Schreiben eine Kulturtechnik ist, die die Äußerungen von der Stimme trennt und damit stimmlos macht?

Hagena: Ich kann einen Text stumm lesen und trotzdem „hören“, ob er eine musikalische Qualität hat, ob er laut oder leise, eufonisch oder absichtlich nicht harmonisch ist. Das ist vergleichbar mit dem stillen Lesen einer Partitur und gilt auch für das stumme Schreiben. Nach wie vor gelten Dichten und Singen als Synonym. Orpheus ist nicht nur der größte Sänger, sondern zugleich der größte Dichter des Abendlandes.

Es gibt also keinen gravierenden qualitativen Unterschied in der Sinneswahrnehmung dieser unterschiedlichen Sphären?

Hagena: Je älter ich werde, desto weniger glaube ich an Trennungen zwischen Gattungen oder Künsten. Der russische Dichter Ossip Mandelstam hat nach der Ansicht einer Originalpartitur von Bach geschrieben, sie sei „ein erschütterndes Bündel getrockneter Pilze“. Das hat etwas sehr Visuelles, Sinnliches, Geschmackliches und Hörbares. Durch den etwas schnaufenden Atem der Orgel werden die getrockneten Noten dann zu aromatischen Risotto-Pilzen aufgeschwemmt.

Wenn Sie beim Schreiben so sehr von Ihrer eigenen Stimme geleitet werden, ertragen Sie es dann überhaupt, wenn Ihre Hörbücher von fremden Stimmen eingesprochen werden?

Hagena: Einerseits ist es eine Ehre, wenn Schauspieler meine Bücher lesen, andererseits finde ich es aber auch schmerzhaft, weil ich manchmal meine eigenen Texte nicht wiedererkenne. „Herzkraft“ durfte ich selber einlesen. Ich hätte nicht gewollt, dass das jemand anderes macht. Anstelle der Gedichte habe ich zum Ende ein zweistimmiges Lied mit einer Freundin eingesungen.

Sie sind in einer Familie aufgewachsen, in der viel gesungen wurde. Zum Beispiel im Auto, um die Reiseübelkeit zu bekämpfen …

Hagena: Eine Zeitlang dachte ich, nur in unserer Familie macht man das. Inzwischen habe ich von vielen Menschen gehört, dass Singen gegen Übelkeit hilft. Es scheint ein wirksames Mittel zu sein.

Aber als Sie in jungen Jahren den Wunsch hatten, Gesangsunterricht zu nehmen, entschieden Ihre Eltern sich für das Klavier. Warum?

Hagena: Mein Vater stammt aus einem protestantischen Pfarrhaus, in dem man sich nicht solistisch in den Vordergrund spielte. Man musizierte, ohne hervorzustechen. Daher fanden alle meinen Wunsch eher peinlich oder zumindest amüsant. Das Klavier erschien meinen Eltern weniger verwegen als die Stimme.

Galt das Singen in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht auch unter den gleichaltrigen Jugendlichen als peinlich?

Hagena: Auf jeden Fall. Deshalb gefällt es mir, dass es heute wirklich gute Gesangs-Casting-Shows gibt und die Jugendlichen ihre Gesangsvideos online stellen. Es gibt zurzeit viele junge Menschen, die richtig viel singen.

Aber findet man durch das Kopieren seiner Idole die eigene Stimme?

Hagena: Es schadet jedenfalls nicht. Erst mal kann man ruhig diejenigen nachahmen, die man toll findet, und einfach herumprobieren. Das ist beim Schreiben nicht anders. Dabei lernt man viel Handwerk, wird aber auch merken, dass es einen nur begrenzt trägt. Und dann findet man allmählich heraus, wer man selber ist.

Hängen die jahrzehntelagen Vorbehalte gegen das Singen mit unserer deutschen Vergangenheit zusammen? Sie haben zwei Jahre in Dublin gelebt, wo sicher viel mehr und freier gesungen wird.

Hagena: Die Iren singen ständig. Alle Klischees sind wahr. Gerade in kleinen Ländern, die kolonisiert wurden, hat die Musik einen starken politischen und identitätsstiftenden Aspekt. Die identitätsstiftende Bedeutung des deutschen Volkslieds ist uns verlorengegangen, weil sie von den Nationalsozialisten missbraucht wurde. Trotzdem wird man als Deutsche in Dublin gezwungen zu singen. Dann denkt man: Na gut, lieber ich als irgendjemand, der „Die Wacht am Rhein“ schmettert. Auch wenn man sich eigentlich lieber sofort entleiben würde.

Sie problematisieren in Ihrem Buch die kulturelle Aneignung von Musik …

Hagena: … weil ich auch in einem Gospelchor gesungen habe. Da muss ich mich fragen, ob weiße Chöre Lieder von Afrikanern singen dürfen, die von Weißen als Sklaven verschleppt wurden. Ich glaube aber tatsächlich, alle dürfen alles singen – solange wir unsere Stimme kennen und uns klar machen, wer wir sind. Dann kann es keinen Raub der Identität geben.

In den drei Kapiteln, die Sie der Frauenstimme widmen, tauchen Sie in die mythologische Welt der Sirenen, Meerfrauen und des Orpheus-Mythos ein.

Hagena: Für mich war interessant, dass wir dichtenden Frauen in der Antike kein Rollenmodel wie Orpheus haben, von dem alle ungebrochen sagen, er sei der Tollste. Singende Frauen wie die Nymphen und Sirenen werden zwar imaginiert, dann aber immer besiegt und ausgelöscht. Die stimmgewaltige Frau löst Ich- und Kontrollverluste im Zuhörer aus und wird als Bedrohung empfunden. Das zieht sich durch bis ins 20. Jahrhundert. Erst in Ingeborg Bachmanns Erzählung „Undine geht“ findet die Meerfrau ihre eigene Stimme.

Zudem wurden Frauen, die sich auf diese Weise gebärdeten, pathologisiert und als Hysterikerinnen gebrandmarkt …

Hagena: Interessanterweise gibt es im 19. Jahrhundert sehr viele Frauen, die ihre Stimme, ihre Sprache verloren haben, besonders in den bürgerlichen Schichten. Das war bei Sigmund Freud eines der gängigsten Symptome der Hysterie. Die Ursache für die vielen Mundtoten lag in ihrer gesellschaftlich verordneten Fremdbestimmung…

Sie thematisieren auch die Verletzlichkeit der Gesangsstimme …

Hagena: Ich kenne viele Menschen, die nach einer abfälligen Bemerkung nie wieder gesungen haben. Wenn einem der Deutschlehrer sagt, man habe einen wirklich schlechten Aufsatz geschrieben, würde man doch nie auf die Idee kommen, keine Bewerbungen oder Liebesbriefe mehr zu schreiben. Beim Singen wird einem oft suggeriert, wer nicht auftrittsreif ist, soll die Klappe halten. Das ist Quatsch. Ich finde, jeder, der einen Liebesbrief schreiben kann, darf am Bettrand seines Kindes auch ein Gutenachtlied singen. Und umgekehrt.

Buch-Tipp

Album Cover für Herzkraft: Ein Buch über das Singen

Herzkraft: Ein Buch über das Singen

Katharina Hagena Arche Verlag, 224 Seiten 18 Euro

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