Startseite » Interviews » „Meine Wahrnehmung der Orgel ist binär“

Interview Cameron Carpenter 2021

„Meine Wahrnehmung der Orgel ist binär“

Gut, dass sie mobil ist: Cameron Carpenter musste mit seiner Orgel umziehen. Jetzt steht ihm außerdem eine gigantische Leinwand zur Verfügung.

vonHelge Birkelbach,

Sie ist mobil und die einzige ihrer Art. Mit ihrem 72-Kanal-Touring-Soundsystem und dem speziell entwickelten Computersystem ähnelt sie eher der Kommandozentrale eines Raumschiffs als einer knarrenden Pfeifenorgel. Die International Touring Organ (ITO) von Cameron Carpenter ist Lichtjahre entfernt von der Vorstellung eines unverrückbar installierten Klangkorpus. Dennoch darf die ITO aus bekannten Gründen derzeit nicht auf Reisen gehen. Stattdessen muss sie im Trockendock liegen. Zum Glück an einem neuen Aufführungsort, der über eine gigantische Leinwand verfügt. Beim Zoom-Interview konnte man einen ersten Blick darauf erhaschen.

Lassen Sie uns über Maschinen sprechen. Welche Rolle spielen sie in Ihrem Leben?

Cameron Carpenter: Mein Lieblingsthema! (lacht) Grundsätzlich ist eine Maschine eine Erweiterung der Person. Sie ist ein Tool, das unseren Körper und unseren Geist erweitert. Solche Werkzeuge kennen wir bereits seit den Anfängen der Zivilisation, als wir zum Beispiel mit Speeren die Reichweite beim Jagen und Erlegen von Tieren vergrößern konnten. Fortschritte und neue Möglichkeiten treiben uns an. Heute nutzen wir Maschinen auch, um großartige Musik zu komponieren beziehungsweise zu spielen. Jedes neue Instrument in der Musikgeschichte bot gleichzeitig neue Möglichkeiten und vergrößerte das realisierbare Klangspektrum – denken Sie nur an die Erfindung des Saxofons! Als menschliche Wesen haben wir es in unserer Evolution geschafft, immer raffiniertere Dinge zu erfinden und Ideen zu verwirklichen, die früher undenkbar oder gar verrückt waren. Und so wurden die Maschinen auch immer raffinierter. Dabei fällt die parallele Entwicklung von technologischer Innovation, zum Beispiel in Forschung und Wissenschaft, und spirituell-kreativer Entwicklung ins Auge. Die Orgel als größtes Instrument, das Menschen jemals gebaut haben, steht genau im Zentrum der Betrachtung und verbindet diese beiden Seiten. Bereits in der römischen Antike wurde die Hydraulis konstruiert, eine Wasserorgel. Also weit vor der Entstehung des Christentums und der Etablierung der christlichen Liturgie! Die Betrachtung, dass die Orgel das Kircheninstrument schlechthin sei, stimmt also nicht. Es ist die einseitige Wahrnehmung der Menschen – ob jetzt an Weihnachten, bei Hochzeiten oder Begräbniszeremonien –, die dieses Bild entstehen ließ und immer noch projiziert. Dieses Bild ist sentimental. Das entspricht aber nicht meiner Wahrnehmung. Denn die ist binär.

Binär? Wie meinen Sie das?

Carpenter: Lassen Sie mich ein bisschen ausholen. Den Begriff „binär“ verbinden die meisten Menschen ja eher mit Programmiersprache und Computern. Bei Instrumenten denken sie in diesem Kontext an Synthesizer und elektronische Keyboards. Die ersten vollelektronischen Orgeln kamen Anfang der 1970er Jahre auf den Markt, vorher gab es schon elektromechanische Instrumente wie die Hammond-Orgel. Die Lernkurve nahm rasant an Fahrt auf, als die Digitaltechnik aufkam und Synthesizer plötzlich nicht mehr groß wie Wohnzimmerschränke waren. Dennoch basiert die digitale Sprache auf einem uralten Prinzip, nach dem auch jede Orgel funktioniert. Das binäre Prinzip, also Null oder Eins, heißt schlicht übersetzt: Luftzufuhr „on“ oder „off“. Ich drücke eine Taste auf dem Spieltisch, schalte also die Luftzufuhr ein und die entsprechende Pfeife erklingt. Auch der Einsatz der Register ist binär: an oder aus. Die Register einzustellen und zu kombinieren, kann man in gewisser Weise mit der Programmierung eines Computers vergleichen. Es hat viel mit Mathematik zu tun. Ich habe mich lange mit den Theorien des Mathematikers John von Neumann befasst und natürlich mit Benoît Mandelbrot und Claude Shannon, dem Vater der Informationstheorie. Das ist hochinteressant! Wenn ich mich mit der Orgel aus dieser Perspektive heraus annähere, benutze ich Begriffe wie Präzision, Zugriff, Wissen, Erkenntnis – und nicht Spiritualität, Glaube, Transzendenz. Auch deshalb habe ich die Konstruktion meiner ITO vorangetrieben, um mich von statischen Aufführungsorten wie Kirchen und auch Konzerthäusern lösen zu können.

Was unterscheidet Ihre International Touring Organ von einem Synthesizer?

Carpenter: Mit einem Synthesizer lässt sich jedweder Klang formen, auch solche, die in der Natur nicht vorkommen. Meine ITO greift jedoch lediglich auf bestehende Register von klassisch konstruierten Pfeifenorgeln zurück und kombiniert sie neu. Dabei beschränke ich mich „nur“ auf 186 Register. In der ITO stecken also nicht alle Orgeln der Welt, sie ist ein Unikat. Sie klingt so, wie ich es mir vorgestellt habe. Zum Glück hatte ich jemanden, der alle meine Ideen umsetzen konnte. Ich habe die Orgel also nicht selbst gebaut, sondern erdacht. Insofern bin ich kein Orgelbauer, sondern eher ein Orgeldesigner. Dennoch folge ich mit meinem Instrument einer gewissen Tradition. Denn jede Orgel ist einzigartig – oder sollte es zumindest sein. Jeder Orgelbauer bringt seine speziellen Ideen, Fähigkeiten und Klangvorstellungen ein und variiert sie, unter Berücksichtigung der jeweiligen Architektur und Raumakustik. Dabei unterscheidet sich die europäische Orgelbautradition signifikant von der in Amerika, die mich geprägt hat. Die Begeisterung für die Elektrifizierung der Traktur setzte sich über Vorbehalte, die es in Europa zunächst gab, schnell hinweg. Ohne nun ins Detail zu gehen, möchte ich nur auf die enorme Bandbreite und Ausstattung der zahlreichen Kinoorgeln hinweisen, die im Filmland USA immer auch Prestigeobjekte waren, um die Attraktivität der Kinos für das Publikum zu steigern. Der Wettbewerb hat Innovationen befeuert – an einem profanen Ort der Unterhaltungskultur, jenseits der Kirchen und Gotteshäuser.

Gibt es eine Orgel, die Sie beim Entwurf besonders inspiriert hat?

Carpenter: Beim Entwurf habe ich mich an der Klangvorstellung und den Registern der typischen American Municipal Pipe Organs orientiert. Diese wurden nicht in Kirchen, sondern in Konzertsälen, Theatern und anderen öffentlichen Veranstaltungsorten eingesetzt. Ironischerweise folgten die Bauweisen der amerikanischen Kirchenorgeln ab den 1950er Jahren genau diesem nicht-sakralen sinfonischen Stil.

Nun parkt die ITO nicht mehr in einem Proberaum, sondern hat in der Alten Münze in Berlin einen imposanten Auftrittsort gefunden. Wie kam es dazu?

Carpenter: Ich hatte ein echtes Problem und musste raus aus dem Gebäude, wo die Orgel stand. Es gibt da diverse Proberäume von Black Box Music, die zum Beispiel von Rammstein und Tokio Hotel genutzt wurden. Aber einige Räume mussten wegen Corona umgewidmet werden: Sie wurden für eine Filmproduktion reserviert. Ich habe darüber auf Facebook berichtet, das wurde von den Medien aufgegriffen. Über Umwege erfuhr ein Orgelfan davon, der mich 2011 bei einem Auftritt in der Liederhalle Stuttgart erlebt hatte. Als Geschäftsführer einer Kommunikationsagentur ist er in Berlin gut vernetzt. Er stellte den Kontakt zu seinem Geschäftspartner Quirin Graf Adelmann her, der wiederum Verbindungen zur Alten Münze hat, wo seine multimediale Ausstellung „nineties berlin“ stattfand. Graf Adelmann ermöglichte die Installation der ITO in der ehemaligen Großen Prägehalle. 2018 wurde eine 270-Grad-Panoramaleinwand im Zentrum der Ausstellung installiert. Die Leinwand hat eine Länge von insgesamt 55 Metern, man wird quasi von ihr umschlossen. Das Besondere heute: Die ITO mit ihrer kompletten Technik ist vollständig dahinter verborgen, nur der Spieltisch ist sichtbar. Es ist sicher die aufwändigste Installation einer Orgel dieser Dimension, die es je gab. Das ist wirklich fantastisch! Wegen Corona wissen wir noch nicht genau, wann wir die geplanten Konzerte hier veranstalten können. Aber wir werden auf jeden Fall Projektionen einsetzen. Keine Filme, sondern Visuals, die auf fraktalen Zooms basieren.

Erklären Sie kurz: Was sind Fraktale?

Carpenter: Fraktale sind visuelle Umsetzungen von mathematischen Berechnungen, die die Selbstähnlichkeit geometrischer Formen beschreiben. Eine endlos sich selbst reproduzierende Gestalt. Benoît Mandelbrot prägte diesen Begriff im Jahr 1975. Es ist ein bisschen so, als ob man einen Himmel mit vielen Wolken betrachten würde. Die Formen der großen Wolken finden sich auch in den kleineren wieder, diese wiederum in den noch kleineren. Es geht um die Unendlichkeit von Wiederholungen und Variationen. Wahrscheinlich werde ich Ausschnitte aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ spielen. Bachs Kompositionstechniken passen perfekt zu den mathematischen Grundlagen der Fraktale. Bach ist fraktal.

Auf Ihrer neuen CD stellen Sie Bearbeitungen der „Goldberg-Variationen“ der 2. Sinfonie von Howard Hanson gegenüber. Gibt es ein verbindendes Element dieser beiden Kompositionen?

Carpenter: Offensichtlich ist das ein heftiger Kontrast. Dennoch gehören sie für mich zusammen. Ich habe beide Werke oft live gespielt und wollte sie nun aufnehmen. Bei Bachs „Goldberg-Variationen“ geht es mir wie vielen Menschen: Die Musik scheint über dir zu schweben, gleichsam entrückt. Es ist schwierig, sie zu enträtseln. Ich habe mich schon früh in meinem Studium mit den Variationen beschäftigt, sie haben mein künstlerisches Leben geformt. Trotzdem scheinen sie noch immer weit weg zu sein. Das ist aber eine gute Situation, denn ich bin nicht gezwungen, mit ihnen verbunden zu sein. Ich muss mich nicht mit ihnen identifizieren. Es ist die Essenz von musikalischer Perfektion und erinnert uns – als Zuhörer wie auch als Künstler – an unsere Unvollkommenheit und Sterblichkeit. Als Mensch macht mich diese Musik zum Betrachter. Als Musiker stehe ich davor und studiere es verwundert wie ein großes Gemälde, das mir Dinge zeigt, die ich niemals vollständig verstehen werde. Wenn ich die „Goldberg-Variationen“ für die Orgel übersetze, vertieft sich dieser Aspekt noch weiter. Ich kann die Strukturen besser verstehen. Und warum Hanson? Die Schriftstellerin Susan Sontag wurde einmal gefragt, welche Musik sie lieber auf eine einsame Insel mitnehmen würde: Jim Morrison oder Johannes Brahms? Natürlich würde sie Brahms nehmen, antwortete sie. Und im zweiten Atemzug: Aber warum muss ich überhaupt wählen? Und so verhält es sich bei mir mit Bach und Hanson. Warum sollte ich gezwungen sein zu wählen? Natürlich handelt es sich bei den „Goldberg-Variationen“ um ein Meisterwerk. Aber es steht mir nicht zu, Meisterwerke nach einem Ranking zu unterteilen. Hansons 2. Sinfonie, uraufgeführt 1930 in Boston, ist ebenso ein Meisterwerk, das einer bestimmten Epoche entspringt und ein bestimmtes Gefühl transportiert. Einige Kritiker sagen, dass Hanson absoluter Kitsch sei. Das mag so sein, disqualifiziert die Musik aber nicht für mich. Vielleicht ist das eine speziell amerikanische Betrachtungsweise über speziell amerikanische Musik. Aber ich erstelle kein Ranking. Meine Fähigkeiten als Organist sind vielleicht begrenzter als die von anderen, die ein Repertoire spielen, das weit ausbalancierter ist. Vielleicht haben sie auch andere Ambitionen im Hinblick auf ihre Karriere als ich. Aber die beiden Werke sagen alles, um was es bei Musik geht. Ich habe sie, meinem Herzen folgend, ausgewählt. Ob großes Universum oder einfache romantische Gefühle: Beides gehört zusammen.

Anmerkung der Redaktion: Das neue Album von Cameron Carpenter mit J. S. Bachs Goldberg-Variationen und Howard Hansons Sinfonie Nr. 2 erscheint voraussichtlich im Sommer 2021.

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Klassik in Ihrer Stadt

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!