Startseite » Interviews » „Eine Partitur ist fast heilig für mich“

Cellist Jean-Guihen Queyras im Interview

„Eine Partitur ist fast heilig für mich“

Für den Cellisten Jean-Guihen Queyras ist der Komponist die letzte Instanz. Trotzdem lässt er sich gerne auf musikalische Experimente ein

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Als am 31. Oktober ganz Deutschland das Reformationsjubiläum feierte, gab es einige wenige Menschen, die trotzdem arbeiteten. Jean-Guihen Queyras zum Beispiel, der sich an diesem Tag sogar Zeit nahm für ein Interview.

Heute ist der Tag der Reformation. Gretchenfrage: Wie halten Sie es mit der Religion?

Jean-Guihen Queyras: Ich bin agnostisch aufgewachsen, ich suche das Licht, das Gute und das Schöne in den Menschen und in der Kultur. So bin ich erzogen worden.

Sie wurden in Montreal geboren …

Queyras: Ja, aber meine Kindheit war alternativ und spielte sich nicht in der Großstadt ab. Ich gehöre zur Generation, die nicht unberührt blieb von der 68er-Generation, auch wenn meine Eltern keine Hippies waren (lacht). Als ich fünf Jahre alt war, trennten sich meine Eltern, beide Frankokanadier aus Quebec, und mein Adoptivvater und meine Mutter zogen mit mir nach Frankreich. Sie kauften eine Ruine in der Provence, um sie zu restaurieren und dann von der Töpferei zu leben. Weit weg von der Welt. Es war einerseits ein Traum, allerdings gab es große Momente der Einsamkeit, als sich herausstellte, dass Musik meine Leidenschaft wird.

Jean-Guihen Queyras
Jean-Guihen Queyras © Marco Borggreve

Wie kam es dazu?

Queyras: In dem Ort gab es einen Dreizehnjährigen, der spielte das Saint-Saëns-Konzert. Ich verliebte mich in das Cello, ein Jahr später wusste ich, dass das mein Leben ist. Da war ich neun. Doch es gab keine Institution in der Nähe, die das fördern konnte. So schrieb ich mich an einer Fernschule ein, war den ganzen Tag alleine zuhause, folgte einem Plan: zwei Stunden Cello, zwei Stunden Mathematik und so weiter.

Welche Menschen haben Sie in Ihrer Wahrnehmung geprägt?

Queyras: Der erste war Nikolaus Harnoncourt. Das hing mit meiner Kindheit zusammen. Meine Eltern liebten Alte Musik. Die Gesamtausgabe der Kantaten mit Gustav Leonhard, Dowland, Gamben – das ist die Musik, mit der ich aufgewachsen bin. Mit Anfang zwanzig war ich in einem Meisterkurs von Gustav Leonhardt. Ich konnte vorher nicht Bach spielen. Danach konnte ich es. Der Mann hat meine Wahrnehmung geändert. Aber auch Rostropowitsch war sehr wichtig. Meine erste Lehrerin war sehr sensibel, konnte gut mit Kindern umgehen, eine Zauberin. Und meine zweite Lehrerin war eine Art Großmutterfigur, sie rauchte und hatte eine ganz tiefe Stimme und immer Anekdoten. Und sie hat mir vermittelt, dass man immer etwas Neues entdecken kann, dass man experimentieren und neugierig bleiben soll. Ich habe immer noch intensiven Kontakt zu ihr. Inspirierend war für mich auch Yo-Yo Ma …

… und irgendwann kam Pierre Boulez.

Queyras: Er ist absolut eine Schlüsselfigur meines Lebens. Mit ihm fing ich praktisch als professioneller Musiker an. Zehn Jahre war ich in seinem Ensemble intercontemporain. Er hat mich auf allen Ebenen geprägt. Man arbeitete mit einer Legende, mit einem unglaublich schöpferischen Geist, der gleichzeitig sehr warmherzig war. Er war immer da, wenn man eine Frage hatte, aber auch, wenn es persönliche Probleme gab. Einmal hatte ich eine Verletzung, musste operiert werden und konnte nicht spielen. Regelmäßig schickte er einen aufmunternden Brief oder ein Kärtchen. Sein Interpretationsethos prägt mich bis heute. Die Klarheit, die Transparenz war sehr wichtig. Ich lernte, Emotionen niemals als Pose darzustellen oder hinauszuposaunen, sondern verinnerlicht darzubieten. Das finde ich sehr wichtig für einen Interpreten. Und sich immer in Frage zu stellen. Die größte Schule für mich war auch das Interagieren mit den großen lebenden Komponisten wie Berio, Kurtág oder Ligeti. Jeder wollte etwas anderes von einem Cellisten. Mit Lachenmann konnte ich drei Tage lang bestimmte Effekte üben, während Berio wiederum etwas ganz anderes von mir wünschte.

Gesetzt den Fall, Sie hätten mit Robert Schumann gearbeitet. Hätten Sie ihm je einen derartigen Brief geschrieben wie der Cellist Emil Bockemühl?

Queyras: Ich weiß nur, dass er sich über die Schwierigkeiten in Schumanns Cellokonzert beschwerte und Veränderungen haben wollte …

Ja, und deshalb drohte er dem Komponisten: „Sollten Sie unsere Wünsche nicht erfüllen, so werden Ihnen alle Violoncellisten Nachts im Traum erscheinen und mit ihren Bogen drohen“.

Queyras: (lacht) Ich bin genau das andere Extrem. Der Komponist ist absolut die letzte Instanz. Eine Partitur ist fast heilig für mich. Besonders Schumanns Cellokonzert. Das wäre das Werk, das ich auf die einsame Insel mitnehmen würde, weil mich seine Musik sehr tief berührt und ich auf meinem Instrument hier alles zum Ausdruck bringen kann. Natürlich habe ich Verständnis für Bockemühls Klage. Schumanns Cellokonzert war für damalige Verhältnisse unglaublich gewagt. Und auch technisch ist es alles andere als komfortabel für die Finger. Aber es ist doch genau dieser Kampf, den der Interpret manchmal mit seinem Instrument und der Komposition führen muss, ein Plus für die Interpretation. Sie erscheint dann viel wahrhaftiger.

Jean-Guihen Queyras
Jean-Guihen Queyras © Francois Sechet

Sämtliche älteren Interpreten sagen, dass das technische Niveau heute unter ganz jungen Musikern sehr hoch sei. Gibt es überhaupt noch „unpraktikable“ Werke?

Queyras: Weniger denn je. Man muss auch sagen, es wird etwas einfacher, je mehr ein Komponist sich mit dem Instrument beschäftigt, für das er komponiert. Man spürt, wenn ein Komponist sich nur oberflächlich mit einem Instrument auseinandergesetzt hat.

Wie ist es mit einem Komponisten, dem man nachsagte, er habe „keine Leidenschaften, die ihn quälen“ (Romain Rolland). Sie werden in der Elbphilharmonie sein erstes Cellokonzert spielen …

Queyras: Ah! Camille Saint-Saëns. Die Franzosen haben vielleicht mehr Distanz zu den Emotionen. Das liegt auch an ihrer konventionellen Erziehung. Das Rationale ist sehr wichtig. Man sieht und hört es auch an der Musik von Ravel. Man will durch das Rationale, durch die Kraft des Denkens Musik erleben. Das Seelische ist zunächst nicht die Priorität. Es soll durch die geistige Arbeit entstehen.

Kompliziert. Wie vermittelt der Musiker dies dann?

Queyras: Boulez fand, dass der Interpret gar nicht erst probieren sollte, die Emotion herauszufiltern. Er wollte, dass die Musikkonstruktion relativ objektiv dargestellt werden soll. Jeder Zuhörer sollte dann individuell je nach Gemüt, nach Gemütslage seine eigene Emotion dazu finden.

Und beim ersten Cellokonzert von Saint-Saëns?

Queyras: Ich möchte es mal ganz vorsichtig sagen: Dieses Konzert ist eher eine „leichte“ Musik, die nicht großartig einstudiert werden muss. Es ist kein Werk, welches das Leben verändern würde wie vielleicht ein Schubert-Quintett. Ich erinnere mich an einen französischen Rundfunkjournalisten, der Yo-Yo Ma dafür kritisiert hat, dass er dieses Konzert gespielt hat. Und Yo-Yo Ma hat nur geantwortet, man müsse nicht immer tief und dramatisch sein. Und er hat recht.

Last but not least fordern Sie zwei Damen und drei Herren zum Tanz auf mit den Suiten von Johann Sebastian Bach.

Queyras: Das ist ein Projekt von Anne Teresa de Keersmaeker, welches über die ganze Saison geht. Anne Teresas Choreografie passt sehr gut zu der Musik. Ich sitze auf der Bühne bei jeder Suite auf einem anderen Platz, um eine gewisse Entwicklung zu zeigen. Bei bestimmten Sätzen hat sie ihren Tänzern gesagt, sie mögen nur die Basslinie tanzen, bzw. im Rhythmus auf bestimmten vorgezeichneten Linien marschieren. So entsteht eine zweite rhythmische Ebene, die mir das Gefühl gibt, ich spielte mit einem zweiten Cellisten. Sie „inszeniert“ also nicht, sondern lässt eine Interaktion zu. Das müssen Sie unbedingt sehen und hören!

Aktuelles Album

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Klassik in Ihrer Stadt

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!