Wenn man mit 27 Jahren an der Mailänder Scala debütiert, kann man nur ein sehr talentierter Dirigent sein: Daniele Gatti hat schon einige sehr renommierte Stationen hinter sich, war unter anderem Chef in Rom, Paris und Bayreuth. Zurzeit Chefdirigent an der Florentiner Oper, übernimmt er zum Saisonstart von Christian Thielemann das Amt des Generalmusikdirektors der Sächsischen Staatskapelle. Hier wird der 62-Jährige in seiner ersten Spielzeit fünf von zwölf Abokonzerten und zwei Sonderkonzerte dirigieren und will danach auch Oper machen. Bei seiner Vertragsunterzeichnung im vergangenen Jahr kündigte er an, „keine Revolution, aber auch mehr als nur Traditionspflege zu planen“. Was das genau heißt, beschreibt der Mailänder im Interview.
Wie oft waren Sie in letzter Zeit in Dresden?
Daniele Gatti: 1997 gastierte ich schon mal in der Frauenkirche mit dem Santa-Cecilia-Orchester, das war im letzten Jahr als Chefdirigent in Rom. Im Jahr 2000 durfte ich das erste Mal auf Einladung von Giuseppe Sinopoli die Sächsische Staatskapelle dirigieren und war in den darauffolgenden Saisons immer wieder zu Gast, zweimal auch bei den Osterfestspielen in Salzburg.
Sie kennen dieses sehr alte Orchester also sehr gut. Was verbinden Sie damit?
Gatti: Schon als ich Student war, also in den Siebzigern, habe ich viele Aufnahmen mit dem Orchester gesammelt. Damals konnten Sie ja nicht einfach auf irgendwelche Online-Plattformen gehen und sich durch die Welt hören. Man ging in einen Laden, packte die LP aus, öffnete den Plattenspieler, legte auf, setzte sich hin und hörte aufmerksam zu. Ich erinnere mich etwa an eine großartige Strauss-Edition, auch an Aufnahmen mit Karajan und Kleiber – wohlgemerkt vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Nun können Sie sich vorstellen, dass ich nicht im Traum zu hoffen gewagt hatte, vor dieser Staatskapelle mal als Chefdirigent zu stehen! Denn ich bin überzeugt, es ist nicht nur eines der ältesten, sondern auch eines der renommiertesten Orchester der Welt. Und wenn Sie an die damit verbundenen Namen denken – ob Weber, Wagner oder Strauss – gibt es ohnehin nichts Vergleichbares.
Wie würden Sie den speziellen Klang beschreiben?
Gatti: Das zu beantworten ist nicht ganz leicht. Der sehr natürliche Klang wird ja einerseits stark von der eigenen Schule beeinflusst, sowohl bei den Streichern wie auch bei den Bläsern. Selbstverständlich ist die Staatskapelle wie jedes andere Orchester auch mit fester Spielstätte in der Lage, sich auf diese einzustellen. Andererseits ist es in der Lage, sich sehr schnell auch auf andere Interpretationen einzulassen – je nach Werk, Stil und Dirigent. Es ist ja allbekannt, dass die Staatskapelle ganz innig im deutschen Repertoire zu Hause ist. Ich weiß aber, dass sie flexibel genug für andere nationale Schulen ist, etwa für die französische oder italienische. Was will ich damit sagen? Freilich hat jedes Orchester seine eigene Stimme, aber die großartigsten unter ihnen sind fähig, diese Stimme ganz frei nach Wunsch zu modulieren, also auch die Staatskapelle.
Heißt das auch, Sie möchten ihr großes Repertoire und künstlerisches Erbe erweitern?
Gatti: Das wäre wohl anmaßend. Ich komme ja als Partner des Orchesters. Gleichwohl wollen wir uns neben dem in zwei Jahren geplanten Mahler-Festival auch dem französischen Repertoire und der Zweiten Wiener Schule widmen, ohne dabei das Kernrepertoire zu vergessen, das ich gern ganz verschiedenen Dirigentenpersönlichkeiten anvertrauen würde. Diese Auseinandersetzung ist immer fruchtbar, zumal mein Mahler von vor vierzig Jahren auch anders klingt als der von heute. Man könnte sagen, die Komponisten des großen Kanons werden mit ihrem Interpreten älter. Ich sage Ihnen ehrlich: Für meinen Beethoven-Zyklus, den ich jetzt mit dem Santa-Cecilia-Orchester mache, habe ich mir ein Set völlig neuer Partituren gekauft, um alle früheren Eintragungen auszublenden und an die Musik vollkommen frisch heranzugehen – mit den Augen eines 62-Jährigen. Manchmal muss man von Null neu beginnen.
Sie erwähnten die Zweite Wiener Schule, die man ja schon nicht mehr als modern bezeichnen kann. Spüren Sie aber eine Verantwortung zeitgenössischer Musik gegenüber?
Gatti: Das Wort empfinde ich als zu hart, es gibt keine Pflicht. Mir ist es wichtig, dem Publikum Verbindungen und Entwicklungen aufzuzeigen, etwa von Mahlers zehnter Sinfonie zu Berg und Webern. Bei meinem letzten Beethoven-Zyklus gab ich Werke in Auftrag, die eine Beziehung zu dessen neun Sinfonien herstellen sollten und davor und danach erklangen, also zweimal. Die zweite Aufführung war immer die beste, und das war eine sehr erhellende Erfahrung, sowohl für das Orchester als auch für das Publikum. Oft haben neue Stücke gar nicht die Möglichkeit, ihre eigene Geschichte zu entwickeln. Sie werden nach Auftrag einmal aufgeführt und verschwinden danach in der Schublade. Sie reisen nicht herum. Ich möchte das zeitgenössische Repertoire nachhaltiger entwickeln. Gute neue Stücke sollten das Recht haben, auch anderswo aufgeführt zu werden.
Nun gibt es verschiedene Arten von Dirigenten – vom althergebrachten Diktator zum modernen Typus. Sie verwenden den Begriff „Partner“. Wie sehen Sie sich selbst?
Gatti: Es gibt keine Diktatoren. Der Dirigent hat die Verantwortung für die Aufführung. Ich sehe die Mitglieder eines Orchesters als Kollegen mit unterschiedlichen Auffassungen. Die Zusammenarbeit beginnt, wenn alle der Musik ergeben sind, nicht einem Dirigenten, ob freundlich oder nicht. Ich bin ein Musiker wie die anderen auch, und wir versuchen gemeinsam mit unseren Projekten zu überzeugen. Natürlich hat man als Dirigent dabei auch zu organisieren, eine Vision vom Stück zu vermitteln und es gemeinsam mit dem Orchester immer wieder neu zu entdecken.
Was, glauben Sie, hat für die Staatskapelle den Ausschlag gegeben, Sie zu wählen?
Gatti: Das müssen Sie schon die Mitglieder fragen. Aber ich hatte in den vergangenen 24 Jahren immer den Eindruck, dass meine Art, die Musik zu betrachten, der Art des Orchesters ähnelte. Und für die nächsten Jahre hoffe ich natürlich, dass die Beziehung in den kommenden Saisons immer enger wird und wir dem Publikum gemeinsam eine Vision und Mission vermitteln können.
Das Publikum ist in Dresden recht konservativ, Sie wissen das.
Gatti: Mag sein. Aber was heißt das? Sie müssen in kein Konzert gehen, wenn Sie dasselbe Stück immer gleich hören. Dann wäre es besser, zu Hause zu bleiben und sich eine perfekte Aufnahme anzuhören. Ich glaube dagegen, dass das Publikum ein Interesse daran hat, auch an bekannten Werken immer wieder Neues zu entdecken, sonst würde es sich nicht die Mühe machen, ins Konzert zu kommen.
Nun ist die Staatskapelle vor allem auch ein Opernorchester wie in Wien oder Leipzig. Werden Sie also auch im Graben stehen?
Gatti: Es ist vereinbart, dass ich in der nächsten Spielzeit eine Neuproduktion leite, vielleicht auch die eine oder andere Wiederaufnahme. Da gilt es dann, die Präsenzzeiten hier mit den Opernhäusern in Florenz und Mailand abzustimmen.