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Interview Ivor Bolton

„Sie fragen mich da ja Sachen!“

Ivor Bolton über Politiker als Dirigenten, Klassik hörende Taxifahrer – und den gefährlichen „Schlaftabletten-Effekt“ bei Haydn-Interpretationen.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Glamour ist ebenso wenig die Sache von Ivor Bolton wie ein Leben im Elfenbeinturm. Kein Wunder also, dass der 60-Jährige auch zu gesellschaftspolitischen Dingen viel zu sagen hat.

Sie sind ein politisch denkender Mensch und leben an vielen Orten Europas.  Nehmen wir mal an, wir tauschen den Dirigenten gegen einen Politiker aus. Wie dirigiert Theresa May?

Ivor Bolton: (lacht) Oh, da würde ich nicht gerne im Orchester mitspielen! Und das Ticket würde ich auch nicht kaufen. Ich bin mal gespannt, ob unter ihrer Regierung in London der neue Konzertsaal für das London Symphony Orchestra wirklich gebaut wird.

Und bei Boris Johnson, der übrigens früher auch mal Musikkritiken schrieb?

Bolton: Da schon eher. Und das Ticket würde ich in jedem Fall kaufen. Das, was er produziert, ist einfach gutes Entertainment.

Und bei Angela Merkel?

Bolton: Vor der habe ich einen großen Respekt. Da stelle ich mir das Ergebnis sehr interessant vor.

Obwohl sie dafür bekannt ist, wenige Visionen zu besitzen und fast jeden Konflikt aussitzt? Das kann doch nicht so gut sein für die Musik?

Bolton: Ja, da haben Sie natürlich recht. Wie gut, dass Politiker nicht unsere Orchester und wir Musiker nicht auch ein Land führen müssen. Das ist gar nicht so einfach.

Und da Sie einst in Barcelona und nun in Madrid leben, erspare ich Ihnen den letzten Kandidaten nicht: Carles Puidgemont …

Bolton: … (lacht) Sie fragen mich ja da Sachen! Ich finde, Menschen sollten sich an die Regeln der Verfassung halten und nicht eigene Regeln aufstellen.

Die Aura des Revolutionärs auf der Flucht hat mehr Sexappeal. Ein Opernthema vielleicht?

Bolton: Dort gerne. Aber für die Politik ist das Thema zu ernst. In Katalonien hat sich viel geändert, die Menschen verlieren ihre Jobs, auch wegen der politischen Situation. Nationalismus ist immer schlecht. Wir sind vor drei Jahren von Barcelona nach Madrid gezogen, meine Frau, die hier in Spanien als Musikwissenschaftlerin arbeitet, und ich lieben beide Städte. Natürlich haben wir die Veränderungen mitbekommen.

Hatte die politische Situation auch Auswirkungen auf Ihren Job als künstlerischer Leiter des Teatro Real in Madrid?

Bolton: Ich wohne sehr nah am Teatro Real, hier an der Plaza de Oriente. 1999 kam ich zum ersten Mal auf Besuch hierher. Damals wäre mir niemals in den Sinn gekommen, dass ich einmal diese Funktion am Teatro Real übernehmen würde, das ja als Opernhaus erst 1997 wiedereröffnet wurde. Finanziell und von der Planung her ist es hier nicht so einfach wie in München. Doch das liegt nicht an der jetzigen Politik, sondern an fehlenden Entscheidungen, die man damals nicht getroffen hat. Wir haben hier natürlich nicht die Tradition und die Strukturen eines etablierten westeuropäischen Opernhauses, auf die wir zurückgreifen könnten. Dabei gibt es hier tolle Musiker und Sänger und wir werden immer besser.

Ivor Bolton
Ivor Bolton © Ben Wright Photography

Sie kennen sich in unterschiedlichen Mentalitäten aus – als einstiger Chefdirigent des Mozarteum-Orchesters Salzburg, des Scottish Chamber Orchestra, als Gründer der James Baroque Players und Music Director der Glyndebourne Touring Opera sowie Gastdirigent an der Bayerischen Staatsoper. Zudem sind Sie auch noch musikalischer Leiter des Dresdner Festspielorchesters …

Bolton: … Ich glaube es ja selbst nicht mehr, wo ich überall war! Ich möchte aber auch noch etwas zur musikalischen Erziehung sagen, die eigentlich darüber entscheidet, ob so ein Opernhaus oder ein Orchester funktioniert und eine Zukunft hat. Die Musik muss ins Herz der Gesellschaft ziehen. Spanien bewegt sich in einem guten Mittelfeld im Hinblick auf die musikalische Erziehung. Schlechter als in Deutschland und Österreich, ja, aber besser als in meiner Heimat England und vielleicht auch in Frankreich. Manchmal hat man im Taxi einen Chauffeur, der klassische Musik hört. In meiner Heimat ist mir das noch nie passiert. In Österreich aber ist das fast die Regel, und auch in Deutschland kommt das oft vor.

Überall, wo Sie dirigieren, werden Sie aufgefordert zu bleiben. Wie kommt das?


Bolton: Ich weiß es nicht, aber ich freue mich natürlich darüber.

Auch die MET klopfte an. Sie aber lehnten ab. Warum?


Bolton: Die Arbeitsbedingungen in den USA sind schwierig bis unerträglich, es gibt zu wenige Proben, weil die Musiker praktisch pro Stunde bezahlt werden. Die öffentliche Hand springt kaum ein. Ich fühle mich dort nicht wohl. Und ich sage das nicht wegen Trump. Das ist ein anderes Thema. In den USA gibt es bedeutende kulturelle Zentren und auch sehr brillante Menschen, die sich dort entfalten können, die dort gefördert werden. Gleichzeitig werden Schulen und Krankenhäuser vernachlässigt. Ich brauche ein gutes Umfeld, um zu arbeiten, wie etwa an der Bayerischen Staatsoper. Ich liebe die Ernsthaftigkeit, das kulturelle Engagement der Menschen hier. Fast 23 Jahre war ich jetzt an der Staatsoper …

… und haben über zwanzig Neuinszenierungen gestemmt, darunter jetzt Haydns „Orlando Paladino“, für den Sie gute Kritiken bekamen.

Bolton: Ja, das war eine gute Show und ich habe mich sehr gefreut.

Haydn wird nicht oft aufgeführt, obwohl er über ein Dutzend Opern geschrieben hat. Was ist das Problem?

Bolton: An der Musik kann es nicht liegen. Sie ist nicht so komplex. Die Libretti stammen natürlich aus einer anderen Zeit, vielleicht wirkt die Ritterthematik des „Orlando Paladino“, deren Handlung von einer Episode aus Ariosts Versepos „Orlando Furioso“ aus dem frühen 16. Jahrhundert inspiriert wurde, heute nicht mehr aktuell. Seinerzeit war diese Dichtung beliebt, heute ist sie nur wenigen bekannt. Zudem kommt die Qualität mancher Libretti, die oft nicht auf dem Niveau eines Mozart bzw. Da Ponte steht. Haydns Musik braucht allerdings ein wirklich gut eingespieltes und spielfreudiges Ensemble, und wir waren sehr glücklich, dass wir dies und diesen speziellen Geist an der Bayerischen Staatsoper fanden. Und dass die Regie die magischen, heroischen und komischen Elemente auf so wunderbare Weise ineinanderfließen ließ und durch kleine Filme das Sujet auch ins 21. Jahrhundert transportierte.

Liegt vielleicht auch der Grund für Haydns „Unbekanntheit“ darin, dass es in seinen Opern mehr auf das Ensemble ankommt als auf den einzelnen Star wie etwa bei Puccini oder Verdi?

Bolton: Ja, da könnte etwas dran sein. Einen Star bejubelt man ja anders als ein Ensemble. Auf einen einzelnen Künstler kann man mehr projizieren als auf ein Kollektiv. Andererseits: Mozarts „Così fan tutte“, das Ensembletheater schlechthin, ist ja eine sehr bekannte Oper.

Ivor-Bolton
Ivor-Bolton © Ben Wright Photography

Immer wenn von Haydn die Rede ist, spricht man von seinem Humor. Wie könnte sich überhaupt Humor in absoluter Musik äußern? Ohne Einfälle der Regie, ohne Ablenkung?

Bolton: Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Harnoncourt, den ich sehr bewunderte, hat gezeigt, dass es geht. Ich kann nur für die Oper sprechen. Simple Charaktere müssen in ihrer Simplizität vorgeführt werden, was nicht unbedingt heißt, dass Klamauk daraus wird. Aber sie dürfen auch nicht zu „polite“ rüberkommen oder zu wenig charakteristisch. Da muss in der Phrasierung, der Dynamik und im Tempo die richtige Balance gefunden werden, ansonsten stellt sich der „Schlaftabletten“­-Effekt ein, und der ist bei Haydn tödlich.

In einem Mozartbuch von 1869 von Constantin von Wurzbach steht: „Haydn führt uns aus uns heraus, Mozart versenkt uns tiefer in uns selbst und hebt uns über uns“ …

Bolton: Ja, ich verstehe. Beide waren begnadete Theaterpraktiker, und dennoch hatten sie unterschiedliche Zuhörer vor sich. Haydn hat für den Hof des Fürsten Esterházy geschrieben, sorgte für die Unterhaltung des Publikums dort. Insofern musste er es, wenn ich es so formulieren darf, mehr „ablenken“. Mozarts Musik scheint mir existentieller. Doch auch er musste sich dem Markt anpassen, als teilweise Freiberufler musste er auf die Bedürfnisse seiner Konsumenten achten.

„Haydn“, so Wurzbach weiter, gäbe „objective Anschauungen“ preis, Mozart „subjective Gefühle“.


Bolton: Das ist so zu simpel formuliert. Es ist so schwer, den persönlichen Gefühlen eine objektive Wahrhaftigkeit abzusprechen und umgekehrt. Es hängt sehr von der Persönlichkeit des einzelnen Komponisten ab und seiner Klangsprache. Zugleich würde ich sagen, dass die emotionale Entwicklung einer Fiordiligi oder einer anderen Figur aus einer Oper von Mozart viel differenzierter ist als die einer Figur aus einer Oper von Haydn, trotz ihres harmonischen Reichtums und aller Details.

Als Brite muss ich Sie das fragen: Wie halten Sie es mit dem Brexit?


Bolton: Ich war sehr traurig über diese Entscheidung, aber ich respektiere sie natürlich, denn das ist eben Demokratie. Die Menschen waren es wohl leid, dass die Europäische Union über sie entschied und ihnen eine gewisse Souveränität nahm. Ich teile allerdings die Sorge, dass sich Großbritannien isoliert.

In einer gewissen Isolation lebte auch Haydn, fernab von anderen Komponisten. „Ich war von der Welt abgesondert“, beschrieb er es. „Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irremachen und quälen, und so musste ich original werden.“

Bolton: Na ja, ich bezweifle, dass es jemanden in England gibt, der annähernd so genial und original wie Haydn ist!

concerti-Termintipps:

München
Sa. 22.9.2018, 18:00 Uhr
Nationaltheater Jubiläumsfestwoche.
Mozart: Le Nozze di Figaro.
Ivor Bolton (Leitung), Christof Loy (Regie)
Weitere Termine: 26. & 28.9., 5. & 7.7.

Do. 29.11.2018, 19:00 Uhr
Nationaltheater
Mozart: Così fan tutte.
Ivor Bolton (Leitung)
Weitere Termine: 1. & 3.12.“

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