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Interview Enno Poppe

„Musik soll pure Expression sein“

Enno Poppe ist Porträtkomponist beim Kölner Neue-Musik-Festival „Acht Brücken“ vom 4. bis 12. Mai. Neun Werke aus fast 25 Jahren stehen auf dem Programm, darunter zwei Uraufführungen.

vonSören Ingwersen,

Herr Poppe, Ihr frühestes Stück, das bei „Acht Brücken“ erklingt, stammt aus dem Jahr 2000 und trägt den Titel „Scherben“ …

Enno Poppe: Es ist elf Minuten lang und für elf Spieler geschrieben, von denen jeder ein eigenes Solo hat, das einmal vollständig gespielt wird und ein zweites Mal in kleine Teile verteilt über das ganze Stück, so dass quasi jedes Solo doppelt vorkommt und in zerschnittener Form den anderen Soli begegnet. Das Ganze ist sehr schwer zu dirigieren, weil sich ständig das Tempo ändert.

Das zweite Stück heißt „Rundfunk“ und wurde für neun Synthesizer und Audiosoftware konzipiert. Es ist eine Hommage an die Frühzeit elektronischer Klangerzeugung. Interessanterweise kommen aber keine originalen, analogen Synthesizer zum Einsatz …

Poppe: Ich liebe diese alten Synthesizer sehr. Die Möglichkeiten dieser Instrumente sind aber begrenzt, und sie sind sehr unzuverlässig. Die Synthesizer, die wir für „Rundfunk“ verwenden, sind frei stimmbar. Ungefähr fünfzig Mal wird ihre Stimmung geändert und damit die komplette Tastaturbelegung. Ich arbeite außerdem mit über fünfhundert verschiedenen gespeicherten Farben und nutze die Polyfonie. Der originale Minimoog-Synthesizer zum Beispiel ist einstimmig, während mein virtueller Moog-Synthesizer bis zu 25 Töne parallel erzeugen kann. Mit neun Spielern entsteht dann eine Vielstimmigkeit, die wirklich unglaublich ist.

Warum heißt das Stück „Rundfunk“?

Poppe: Weil es eine Hommage an die Idee der Studios für elektronische Musik ist, die von vielen Rundfunkanstalten in den 1950er-Jahren betrieben wurden. Das waren so eine Art Max-Planck-Institute für Grundlagenforschung. Heute ist es unvorstellbar, dass öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten Geld zur Verfügung stellen, um die Entwicklung der Musik voranzutreiben. Das war eine heroische Epoche, von der die elektronische Clubmusik heute noch profitiert.

„Rad“ und „Fleisch“ sind zwei Stücke, die das von Ihnen gegründete Ensemble Mosaik aufführen wird.

Poppe: „Fleisch“ ist für ein Ensemble geschrieben, das mit E-Gitarre, Drumset, Saxofon und Synthesizer an eine Rockband erinnert. Spannend finde ich hier die Haptik der Klänge, die einem quasi direkt ins Gesicht springen. Man könnte sagen, das Stück setzt sich aus den Trümmern dessen zusammen, was von der Rockmusik übrigbleibt, wenn die Internetverbindung nicht mehr richtig funktioniert. Dahinter steht auch die Idee, dass die Rockmusik selbst historisch geworden ist. Die meisten Rockmusiker sind inzwischen über siebzig Jahre alt, spielen aber immer noch die gleichen Songs wie in den 1960ern.

Das zweite Stück, „Rad“, wird auf zwei Keyboards gespielt …

Poppe: Da benutze ich einen simulierten Klavierklang und arbeite auf extreme Weise mit Mikrotonalität. Innerhalb von zwanzig Minuten werden beide Klaviere hundertmal komplett umgestimmt. Zum Beispiel werden die Tonschritte immer enger, bis am Ende auf den sieben Oktaven der Klaviatur nur noch drei Halbtöne klingen. Oder die Anzahl der Töne pro Taste nehmen zu, wodurch das Stück an manchen Stellen extrem vielstimmig wird.

„Durch mikrotonale Veränderungen entstehen nicht nur andere Akkorde, sondern auch andere Klangfarben“, sagt Komponist Enno Poppe
„Durch mikrotonale Veränderungen entstehen nicht nur andere Akkorde, sondern auch andere Klangfarben“, sagt Komponist Enno Poppe

Wo wir beim Thema Mikrotonalität sind, machen wir doch einen Sprung zum Stück „Strom“, das mit dem Gürzenich-Orchester Köln uraufgeführt wird …

Poppe: Ich bin sehr gespannt, ob es so umsetzbar ist, wie ich es mir vorstelle. Mich interessieren Verläufe, bei denen man denkt, dass etwas gleichbleibt, obwohl es sich ständig verwandelt. Durch mikrotonale Veränderungen entstehen nicht nur andere Akkorde, sondern auch andere Klangfarben, so dass man das Gefühl haben wird, dass mit einem Mal ganz andere Instrumente spielen. Dabei geht es um riesige Akkordballungen mit bis zu fünfzig verschiedenen Tonhöhen. Trotzdem ist das Stück nicht einfach nur eine Studie über Akkorde, sondern eine große Klangreise des Fließens und Strömens, wobei hier und da auch Melodien hervortreten.

Wie weit sind Sie mit Ihrem Stück „Laub“, das ebenfalls uraufgeführt wird?

Poppe: Das Stück ist fertig, vierzig Minuten lang und wieder aus Fragmenten zusammengesetzt. Ich bin ja insgesamt obsessiv mit Variationen. In „Laub“ ist jeder Takt eine Variation des vorhergehenden Takts. So entsteht eine Art „Stille Post“, bei der sich die Musik komplett verändert, ohne dass man sagen könnte, an welcher Stelle diese Veränderung stattgefunden hat.

Um unmerkliche Veränderungen geht es auch im Stück „Speicher“ …

Poppe: In insgesamt drei Stücken habe ich über verschiedene Konzeptionen von Ordnung nachgedacht: „Speicher“, „Koffer“ und „Schrank“. Wenn ich Ordnungssysteme für Musik erfinde, weiß ich, dass selbst in der größten Ordnung immer Unordnung entstehen wird. Das ist quasi eine Gesetzmäßigkeit. Ich beginne ein Stück mit den einfachsten möglichen Bausteinen. Aber je mehr dazukommt, umso mehr verliert man den Überblick. Eigentlich geht es hier um Wahrnehmung und wie man sich in so einem riesigen Kosmos wie einem achtzig Minuten dauernden Stück orientieren kann, ohne die Laune, die Geduld oder die Aufmerksamkeit zu verlieren.

Vom Makrokosmos zum Mikrokosmos: Auch Ihre 25 Lieder nach zwei Gedichten von Else Lasker-Schüler mit dem Titel „Augen“ stehen auf dem Programm.

Poppe: Die Lasker-Schüler-Gedichte bestehen aus Zweizeilern, von denen jeder eigentlich eine Welt für sich ist. So kann man die Gedichte komplett auseinanderschneiden, und jede Strophe ist ein komplett anderer Kosmos. Das kürzeste Lied dauert, glaube ich, acht Sekunden, das längste vielleicht zwei Minuten. Ich habe die Lieder für die fantastische Sängerin Sarah Maria Sun geschrieben, deren Stimme unglaublich viele Ausdrucksmöglichkeiten hat. So hat man den Eindruck, als befänden sich 25 Sängerinnen auf der Bühne.

Komponiert intensive und expressive Musik: Enno Poppe
Komponiert intensive und expressive Musik: Enno Poppe

Welchen Eindruck vermittelt Ihr Stück „Prozession“, das das Ensemble Musikfabrik unter Ihrem Dirigat aufführen wird?

Poppe: Ausgangspunkt ist eine Semana Santa in Sevilla, bei der ich eine unglaublich tolle Prozessionsmusik gehört habe. Diese Umzüge sind zum Teil hunderte Meter lang, wodurch die Musiker niemals simultan spielen können. So entsteht eine Musik, die sich quasi in Wolken bewegt mit einem Mangel an Akkuratesse, den ich wahnsinnig faszinierend finde. Die Idee der Marschmusik wird dabei komplett in ihr Gegenteil verkehrt. So bekommt mein Stück etwas sehr Zeremonielles, das ich auch nicht genau erklären kann.

Wie wichtig sind Erklärungen, wie Sie sie uns jetzt gegeben haben, eigentlich für das Erleben der Musik?

Poppe: Das ist ein wichtiger Punkt. Ich kann Ihnen über die Konzeptionen meiner Stücke sehr viel erzählen, aber entscheidend ist vor allem, dass diese Stücke einen Ausdruck haben, dass sie an Punkte kommen, wo sie wirklich existenziell werden. Da geht es nicht um irgendwelche Komponistenspielchen oder Strukturen, sondern darum, dass die Musik wirklich intensiv und expressiv wird. Das manifestiert sich nicht in der Struktur, sondern ereignet sich einfach. Danach suche ich und das wünsche ich mir: dass die Musik pure Expression wird.

Festivalbegleitend kann man sich noch in Ihre Installation „Wald“ begeben.

Poppe: Das war ein Projekt aus der Corona-Zeit. Das Hamburger Ensemble Resonanz hat mein Konzertstück „Wald“ für vier Streichquartette in einer riesigen Halle aufgenommen, in der die Musiker alle sehr weit voneinander entfernt gesessen haben. Zu diesem fantastischen Playback haben wir die Musiker an verschiedenen Orten in Hamburg gefilmt. Jetzt kann sich das Publikum zwischen siebzehn Bildschirmen räumlich und akustisch im Stück umher bewegen, nah an einzelne Instrumentalisten herangehen, ihnen beim Spielen zuschauen oder den Gesamtklang auf sich wirken lassen.

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