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Interview Enrique Mazzola

„Ich bin in einem Dirigentenalter, in dem ich noch andere musikalische Sprachen lernen will“

Enrique Mazzola über seine zaghafte Annäherung an Wagner, über amerikanische Opernkultur und über einen Verdi, der einmal nicht Verdi sein wollte.

vonMatthias Nöther,

Enrique Mazzola ist an diesem Tag in der Deutschen Oper Berlin nicht nur mit Musik beschäftigt. Es ist der Tag, an dem die russische Armee die Ukraine angreift. Der italienische Dirigent hat von Musikerfreunden aus Kiew gehört. Sie sind in Panik und wollen das Land möglichst schnell verlassen. Mazzola ist sichtlich betroffen, er will das Geschehen auch in der intensiven Probenphase nicht ausblenden. Und trotzdem redet er gerne im Opernrestaurant erst einmal über eine fast 150 Jahre alte Verdi-Oper – die schließlich ebenfalls von einer gewaltsamen Besatzung und dem Widerstand dagegen handelt.

Herr Mazzola, Sie kommen gerade von der Probe. Giuseppe Verdis „Les vêpres siciliennes“ ist eine Oper über einen Aufstand der Sizilianer gegen die Franzosen im späten Mittelalter. Im 19. Jahrhundert wurde er als Allegorie auf die blutige französische Besatzung Algeriens gesehen. Die Oper hat hier an der Deutschen Oper im März Premiere. Ein recht unbekannter mittlerer Verdi – was dirigieren Sie da für ein Stück, musikalisch gesehen?

Enrique Mazzola: Kompositorisch unterscheidet sich das Stück nicht so sehr von berühmteren Verdi-Opern dieser Phase wie „Traviata“ oder „Trovatore“. Das können wir immer schmecken, durchhören. Aber Verdis Ziel mit „Les vêpres siciliennes“ ist ungewöhnlich. Verdi war damals schon ein echter Opernstar – aber eine Auszeichnung fehlte ihm noch, um wirklich der größte Opernkomponist Europas zu werden: ein Stück für die Pariser Oper zu komponieren, und das sollte dieses hier sein. Man konnte aber in Paris keinen Erfolg haben, wenn man nicht den Stil der französischen Grand opéra akzeptierte…

… die epische Erzählweise geschichtlicher Ereignisse, große Tableaus, Massenszenen, aber musikalisch eher schlicht gezeichnete Einzelcharaktere, mit fünf ausgedehnten Akten…

Mazzola: …diesen Stil kannte Verdi durchaus. Er kannte Meyerbeers „Le prophète“, den ich hier an der Deutschen Oper auch schon dirigiert habe. Die Oper ist nur sechs Jahre älter, und die Beziehungen zwischen beiden Werken sind stark. Und was ich so interessant finde: Verdi versucht, so etwas Ähnliches zu machen wie Meyerbeer – aber das Ergebnis ist zu hundert Prozent Verdi! Also er konnte das eigentlich nicht, diesen „großen“ Stil. Meyerbeers Opern funktionieren wie eine Schweizer Uhr, mit vielen Einzelteilen, die auf komplizierte Art zusammenwirken. Verdi kann so eine Uhr nicht bauen, er schreibt auch weiterhin seinen unmittelbar klaren, schnellen und zielgerichteten Stil.

Sie sind bekannt dafür, italienische Opernpartituren des mittleren 19. Jahrhunderts sehr genau zu lesen und gesangliche Konventionen zu hinterfragen – Dinge, die angeblich „immer schon so gemacht“ wurden. Wie ist das – als Beispiel – bei diesem Stück?

Mazzola: In diesem Stück muss ich als Dirigent bei den Sängern nicht große Überzeugungsarbeit leisten, Dinge so oder anders zu machen. Es ist zu unbekannt – die einzige bekannte Nummer ist ein Boléro im fünften Akt. Wenn wir hingegen eine große Repertoire-Oper wie „La traviata“ oder „Aida“ haben, dann sind gewisse Aufführungskonventionen Pflichtprogramm für den Dirigenten. Er oder sie kommt nicht daran vorbei und kann viel falsch machen. Wenn ich die Konventionen akzeptiere, stehe ich schnell im Ruf, ein reiner Routinier zu sein. Wenn ich die Konventionen nicht akzeptiere und eine neue Lesart des Stückes vorschlage, dann gehe ich ein großes Risiko ein. Das ist dann wirklich delikat.

Sie konnten nach mehreren Jahren Wartezeit nun endlich Ihre Stelle als Chefdirigent der Lyric Opera in Chicago antreten. Können Sie dort Ihrem eigentlichen Faible frönen: der Musik des frühen Belcanto, Rossini, Donizetti, Bellini und des frühen Verdi?

Mazzola: Ja, tatsächlich haben wir zunächst ein Programm erarbeitet, das für mich wie ein perfekt sitzendes Kleidungsstück ist. Aber Chicago ist in meiner Laufbahn auch eine Ausnahme – ich bin da nicht nur als Dirigent, sondern auch als musikalischer Leiter. Ich muss also eine große Bandbreite an Repertoire präsentieren. Ich werde deshalb auch spätes 19. Jahrhundert hineinbringen: den italienischen Verismo, der sich weit vom Ur-Belcanto entfernt hat, dann französische Stücke. Und ich werde mit deutschem Repertoire beginnen.

Chefdirigent der Lyric Opera in Chicago: Enrique Mazzola
Chefdirigent der Lyric Opera in Chicago: Enrique Mazzola

Von Wagner haben Sie bisher nur den „Fliegenden Holländer“ dirigiert – für einen Operndirigenten, der seit vielen Jahren in Deutschland tätig ist, bemerkenswert…

Mazzola: Ich interessiere mich ja sehr für frühromantisches Repertoire, deshalb war ein Start mit dem „Holländer“ naheliegend. Meine Strategie bei Wagner ist, hier in Deutschland so viel wie möglich zu lernen, anzuhören – hier kann man schließlich in dieser Spielkultur baden – und das dann in Chicago selbst zu machen.

Diese Spielkultur – worin besteht sie Ihrer Meinung nach?

Mazzola: Sicherlich im Klangideal. Ich habe ja große Erfahrungen damit, den passenden historischen Klang des Belcanto zu erzeugen. Darin bin ich dermaßen sicher, dass ich das überall tun kann: an der Met, in Tokyo oder in Amsterdam. Für Wagner muss ich etwas ganz Anderes lernen: das Wagnersche Legato, also die Bindung, auch das Sostenuto, das Durchhalten von Tönen, das es in der Belcanto-Tradition so ebenfalls nicht gibt. Und die ganzen Tricks, wie man die Konsonanten der deutschen Sprache in die gesangliche Phrasierung einbindet. Ich bin jetzt einfach in einem Dirigentenalter, in dem ich noch andere musikalische Sprachen lernen will.

In Chicago geht es aber offenbar auch um ganz andere Dinge: Gleich in Ihrer ersten Saison haben Sie die Oper „Proving Up“ der US-Nachwuchskomponistin Missy Mazzoli einstudiert. Wir denken oft, dass US-Opernpublikum ausgesprochen konservativ ist und die privaten Geldgeber für Opernproduktionen entsprechend auch. Was hat sich bei Ihnen für ein Bild ergeben?

Mazzola: Tatsächlich ergeben sich aus dem privaten Funding-System im Opernbereich in den USA zurzeit sehr interessante Effekte. Was in Europa vielleicht überrascht: Gerade durch die private Förderung werden thematisch sehr vielfältige Werke in Auftrag gegeben – auch solche, die sich mit aktuellen sozialen Problemen der USA beschäftigen. Für Opern über Diversity, Rassismus, Gender oder Umweltprobleme ist es sogar manchmal leichter, Sponsoren zu finden als für eine neue „Aida“. Die Wirkung solcher Themen ist in der Oper viel stärker, als wenn man darüber in der New York Times liest. Und sie geben einer neuen Generation von Komponierenden in den USA Raum.

Was ist da neu?

Mazzola: Wissen Sie, ich habe ja in Mailand auch Komposition studiert. Und wenn da etwas zu tonal, zu harmonisch klang, selbst durch Zufall, wurde vom Professor sofort gesagt: Also das hier, das funktioniert nicht… Und solche Dogmen hat die letzte Generation der US-Komponisten wirklich abgeräumt. Aber das heißt nicht, dass es sich jetzt um neue tonale Musik handelt. Auch Missy Mazzolis komplexe Partitur artikuliert sich auf der Höhe der Zeit, sie ist voll von dissonanten Passagen – die an anderer Stelle eher ins Harmonische verwandelt werden, aber auch umgekehrt. Wir haben begonnen, die Nicht-Komfort-Zone des Opernpublikums in den USA wieder zu aktivieren.

Gibt es dann auch ein neues Publikum?

Mazzola: Ich bin mittlerweile sehr sensibel für die Tatsache geworden, dass nicht-weiße Menschen nicht dieselben Zugangsmöglichkeiten haben, um in die Welt der klassischen Musik einzutreten. Das gilt für Menschen innerhalb der Musikszene wie auch außerhalb. Solche Sensibilität entwickelt man vermutlich in den USA stärker als hierzulande. Aber wir müssen uns auch um eine bestimmte Generation von Besuchern besonders kümmern: um die jungen Erwachsenen zwischen zwanzig und vierzig. Natürlich gibt es viele Education-Programme von Opernhäusern für Schulklassen. Aber jenseits dieses Alters kommt die erste Generation, die sich frei dafür entscheiden kann, ob sie in die Oper geht oder nicht. Viele von denen gehen von sich aus nicht in die Oper – nicht, weil sie sie nicht mögen, sondern weil sie gar nicht wissen, was das ist. Mit dieser Generation müssen wir stärker ins Gespräch kommen, in einer pro-aktiven Weise.

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