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Interview Gabriela Montero

„Das Sistema ist ein Komplize der Diktatur“

Gabriele Montero kämpft jenseits des Konzertsaals gegen das verbrecherische Regime ihrer Heimat Venezuela

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Sie lässt Schuberts Forelle rocken und verwandelt Tschaikowskys Konzert-Schlachtrösser in coolen Jazz: Gabriela Montero ist ein Improvisations-Genie. Eine seltene Gabe in der Klassik – ähnlich rar gesät wie ihre klare politische Haltung, wenn es um Gewalt und Willkür in ihrem Geburtsland Venezuela geht.

Frau Montero, was bedeutet Heimat für Sie?

Gabriela Montero: Ich fühle mich als Venezolanerin, auch wenn ich wenige Wurzeln habe, da ich oft umgezogen bin und auf  vielen Schulen war. Ich habe in Venezuela, Kanada, England, Holland und den USA gelebt, bin zweimal geschieden – heute lebe ich mit meinem Mann und meinen zwei Töchtern in Los Angeles und habe eine gewisse Ruhe gefunden. Aufgewachsen bin ich in Caracas, hier verbrachte ich meine ersten acht Jahre mit meinen Eltern, mein Vater stammte aus der Mittelschicht – heute lebt er als alter armer Mann in Venezuela. Gerne würde ich ihn da herausholen, wie ich das bereits mit meinem Bruder, seiner Frau und seinen zwei Kindern gemacht habe, die keine Arbeit fanden und in einem Klima der Gewalt und Willkür leben mussten. Es ist schlimm geworden in Venezuela, besonders in den letzten Jahren.

Sie sprechen sogar von einer Diktatur und einem „Narcoestado“, einem Drogenstaat …

Gabriela Montero: Ja, lesen Sie das Buch von Geoffrey Baker: Da steht alles drin, wer wen finanziert – und alles stimmt. Das Land ist auf einem erbärmlichen Niveau. Nicht nur, dass die Leute kein Toilettenpapier oder Brot haben, es fehlt ihnen an den ganz wesentlichen Dingen und dies in einem so erdölreichen Land wie Venezuela. Im Supermarkt muss man den Ausweis vorzeigen, man bekommt nur etwas, wenn man auf der Liste steht. Da stimmt doch etwas nicht! Die Menschen haben nichts zu essen und keine Medizin. Dann das miserable Erziehungssystem …

… dabei schwärmen doch alle von dem Sistema.

Gabriela Montero: Das Schlimmste ist, dass das Sistema die Menschen nicht über die wahre Situation dieses Landes aufklärt. Mehr noch: Es lügt, gaukelt den Menschen vor, dass alles wunderbar sei. Es ist ein Komplize einer Diktatur, weil es ja von ihr auch finanziert wird. Ex-Präsident Hugo Chávez hatte es ganz bewusst „gekauft“, es instrumentalisiert, um sein System promoten zu können, als Propagandamittel für seine Politik. Auf Gastspielen tragen die Musiker die neue, um einen Stern erweiterte Flagge des sozialistischen Venezuela – stellen Sie sich einmal vor, die Deutschen würden das machen! Nach innen wird das Sistema selbst autoritär und reaktionär geführt. Nach außen aber gibt es sich als Retter armer Kinder von der Straße, die statt einem Gewehr …

… ein Instrument in der Hand bekommen. Das kommt im sozialromantischen Europa besonders gut an.

Gabriela Montero: Ich will nicht damit sagen, dass alles im Sistema schlecht ist. Es ist wunderbar, wenn Kinder an die Musik herangeführt werden. Doch das Sistema und die Musik werden die Menschen nicht in ihrer Not retten und die Korruption bekämpfen, die Gesetzlosigkeit, die Gewalt und das Unrecht. Und die desolate Versorgung: Wenn Venezolaner ausreisen, dann nehmen sie große Koffer mit, um sich im Ausland mit Medikamenten einzudecken. Eine meiner besten Freundinnen starb im Januar, weil es in Caracas auf der Intensivstation keine Blutkonserven gab. Ich habe alles versucht, habe auf Social-Media-Kanälen und Twitter eine Kampagne in Gang gesetzt, um Blut zu bekommen: Sie starb mit Anfang vierzig.

Sie sprechen bereits seit Jahren von den Missständen in Vene­zuela, warum werden die Me­dien erst jetzt darauf aufmerk­sam? 

Gabriela Montero: Chavez war sehr schlau, hat sich mit sehr viel Geld ein Image aufgebaut. Typisch für das marxistische System ist ja, dass man an das Gewissen appelliert und die Menschen damit packt: Das kommt in Europa unglaublich gut an. Wenn es doch eine echte sozialistische Regierung wäre! Das ist sie aber nicht: Es ist eine Kleptokratie, eine Herrschaft der Plünderer. Die Chavistas sind die Oligarchen. Und das in einem System, das sich sozialistisch nennt.

Es ist schon sehr unge­wöhnlich, dass eine Musikerin sich poli­tisch so klar äußert.

Gabriela Montero: Warum, Gabriela, fragen mich die Menschen, redest du über Politik? Denen sage ich dann, dass ich nicht über Politik rede, sondern von einer humanitären Katastrophe. Kürzlich bin ich zur Ersten Honorarkonsulin von Amnesty International ernannt worden. Diese Aufgabe nehme ich sehr ernst. Es gibt so viele, die kommen in meine Konzerte und erzählen mir: Mein Vater, meine Mutter, mein Kind wurden ermordet. Es sind so viele, so viele … Die Dinge können nicht so weitergehen: Ich bin unabhängig und sage das, was wichtig ist. Es gibt keine Ausreden mehr, ich muss mich einsetzen, als Künstlerin, mit allem, was mir zur Verfügung steht, denn in Venezuela herrscht eine menschenverachtende Diktatur.

Deutliche Worte – für die Sie Drohungen bekommen.

Gabriela Montero: Als ich 2011 mein einsätziges  Klavierkonzert Ex Patria in Nürnberg uraufführte, kamen die ersten Drohungen. Ich wollte mit dieser Komposition den moralischen Verfall meines Landes anprangern und habe es den 19 336 Toten gewidmet, die allein 2011 unter dieser Diktatur starben – und im Jahr 2013 waren es sogar 25 000 Tote!  Besonders stark aber wurden die Drohungen, als ich 2014 Gustavo Dudamel einen offenen Brief schrieb.

„Treten Sie zurück, Herr Dudamel! Lösen Sie Ihre Freundschaft mit der Diktatur!“, forderten Sie da­mals im Interview mit der Welt.

Gabriela Montero: Er ist das Gesicht des Sistema. Und er schweigt und tut so, als gäbe es all die Probleme nicht. Dabei kommen auch Kinder des Sistema zu Tode, bei den vielen Schießereien, die es tagtäglich in Caracas gibt. Sie sind ja selbst Opfer. Dudamel sollte sagen: Für mich steht der Mensch und seine Unversehrtheit an erster Stelle. Und dann erst kommt die Musik oder die Karriere. Er tut das nicht. Ich weiß nicht, wie man so etwas aushalten kann, an einem System beteiligt zu sein, das so viel Bosheit und Entmenschlichung gebracht hat. Ich habe Gustavo, mit dem ich oft aufgetreten war und dessen Frau ich gut kannte, dann im letzten Jahr einen offenen Brief geschrieben, keine Attacke, sondern eine Bitte.

Warum?

Gabriela Montero: Anlass war der 12. Februar 2014 in Caracas. Gustavo und Christian Vásquez dirigierten das Orchester und feierten den Tag der Jugend vor der Politprominenz, während gleichzeitig unweit vom Konzertsaal drei Studenten, die friedlich demonstrierten, massakriert wurden. Das habe ich nicht mehr ertragen, ich musste etwas tun. Danach drohte man mir im Internet: „Hoffentlich brechen sie dir die Finger, damit du niemals mehr Klavier spielen kannst“. Und: „Hoffentlich stirbst du“. Und auch mit Entführung – und dies nicht einmal anonym: So sicher fühlten sich diese Menschen dort. Und wer in Venezuela gelebt hat, weiß, dass diese Drohungen ernst gemeint sind. 98 Prozent meiner Fans allerdings unterstützen mich und bedanken sich.

Musikalische Schlagzeilen machen Sie seit Jahren als Meisterin der Improvisation.

Gabriela Montero: Ja, ich bin mit diesem Talent geboren. Heute weiß ich, dass es ein Privileg ist, mich mitteilen und das Publikum erfreuen zu können. Doch es gab viele Momente, wo ich mein Talent als Fluch empfunden habe.

Als Fluch?

Gabriela Montero: Ja. Ich war eben immer anders, ein Wunderkind. Wenn man mit so einem klar definierten Talent geboren wird, wird man sich nie komplett erforschen können, da es einem den Weg weist. Man wird auch selten andere Begabungen entdecken, denn alles andere wird dagegen ziemlich mittelmäßig sein. Ich wurde zwar geboren, um Klavier zu spielen, aber eigentlich bin ich eine Abenteurerin – und ich habe auch andere Interessen: So wollte ich einst Psychologie studieren, habe Praktika in Krankenhäusern gemacht. Ich wollte etwas Sinnvolles machen und Menschen helfen. Oft hatte ich das Gefühl, in einem Gefängnis zu leben: Ich fühlte mich verfolgt, nicht frei.

Befreit hat Sie dann Martha Argerich, die Ihr Talent sofort verstanden hat.

Gabriela Montero: Ja. 2001 setzte ich mich mit ihr zusammen, sie hörte mir zu und sagte mir, ich sei die Einzige, die so etwas wirklich machen könnte. Das gab mir den Mut, mit den New Yorker Philharmonikern zu spielen wie auch auf Festivals mit anderen großen Künstlern der Klassik. Und inzwischen, glaube ich, habe ich mich bewährt.

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