Als Kooperation zwischen dem Reeperbahn Festival Hamburg und den Duisburger Philharmonikern kam es zum gemeinsamen Auftritt des Duisburger Pianisten und Komponisten Kai Schumacher mit dem Sänger und Liedermacher Gisbert zu Knyphausen. Daraus wurde das Tourneeprojekt „Lass irre Hunde heulen“ mit zehn Musikern samt Album auf CD, Vinyl und einer Schubert-Box. Eine Referenz von heute an den erzromantischen Songwriter. Aber Schubert ist kein „Corona-Blues“: Die Idee hatte Schumacher, weil Gisberts Lieder auf eine echte Seelenverwandtschaft mit dem oft in ein Konzertgefängnis gesperrten Schubert schließen ließen. Vor dem Auftritt in Leipzig am 28. August traf sich Roland H. Dippel mit den Künstlern zu Gespräch.
Warum spielen Sie im Geyserhaus und nicht im Gewandhaus?
Kai Schumacher: Es ist doch spannend, Schubert an nur scheinbar wenig kompatiblen Stellen dem kollektiven Gedächtnis näherzubringen. Denn man sollte sich nicht täuschen: Schubert sagt vielen gar nichts außer durch „Die Forelle“ und seine Syphilis-Erkrankung.
Gisbert zu Knyphausen: Ich wusste kaum etwas über Schubert, kannte allerdings den „Leiermann“, das Schlussstück aus der „Winterreise“. Meine Freundin hat mir vom „Ständchen“ im Arrangement vom österreichischen Ensemble Franui vorgeschwärmt. Deshalb passen wir ganz gut hierher.
Wer hatte die Idee zu „Lass irre Hunde heulen“?
Schumacher: Den Wunsch einer Neuformung von Schubert-Liedern habe ich lange mit mir herumgetragen. Schon als Schüler gaben wir Liederabende mit unserem ehemaligen Sportlehrer, der ein engagierter Sänger war. Damals entwickelte ich für Lieder von Schumann und Schubert ein kleines Faible. Ich fand sie reizvoll, weil man als Pianist darin kleine Soli hat und bei Konzerten in den Hintergrund treten kann, um Sängern den roten Teppich auszurollen. Später betrachtete ich die klassische Umgebung solcher „normalen“ Liederabende als Ausstellung in einem Glaskasten mit eigenen Gesetzen, Regeln und ständiger schauspielerischer Überaktion. „Verstaubt“ ist das falsche Wort. Aber in dieser Form haben mich sogenannte Kunstlieder nie erreicht, obwohl ich sie immer sehr schön fand.
Knyphausen: Ich wollte diese Lieder als Songwriter ausprobieren, sie entkernen und ihre Substanz herausschälen. Was sind das für textlich-musikalische Grundakkorde und -harmonien? Was kann man daraus noch machen, ohne dass sie in eine distanzierte heilige Aura rutschen? Diese hatten sie im frühen 19. Jahrhundert ja nicht. Schubert saß in Nebenzimmern von Gasthäusern oder privaten Wohnungen. Liederabende im Wiener Musikverein gab es erst viel später. Deshalb wollte ich Töne mit einer in den meisten Konzerten verlorenen Unverkrampftheit finden. Dass es diese gab, habe ich aus der Literatur über Schubert und Dokumente von Zeitzeugen herausgelesen.
Kollektive Leiden während Schuberts Lebenszeit waren Repression und Zensur wie für uns momentan der Druck durch die Pandemie. Hatten Sie einen Aufhänger aus unserer Gegenwart für Ihr Schubert-Bild?
Schumacher: Für mich ist Schubert – ganz wichtig – der Prototyp des freischaffenden Künstlers, der unabhängig sein will von der Kirche, von Institutionen und anderen Auftraggebern. Schubert wollte nur für und von der Kunst leben. Kompromisse haben bei ihm ja nie so geklappt. Diese Parallelen zur heutigen Existenz freischaffender Kreativer, die oft unter beträchtlichen Entbehrungen von Jahr zu Jahr und von Album zu Album ihre Existenz sichern müssen, interessiert mich.
Knyphausen: Meine Herangehensweise ist meistens konzeptlos, also ohne große Theoriebasis oder Zielorientierung. In diesem Fall war wichtig: Welche Lieder Schuberts sprechen zu mir? Gibt es Themen, die ich auch in meinen eigenen Liedern besinge? Welche Melodien finde ich schön? Welche gehen mir zu Herzen – und wollen die Leute das von mir hören?
Musik enthält einen größeren Spielraum des Umgestaltens als der Umgang mit den von Schubert verwendeten prominenten Dichtungen. Was bleibt für einen Texter und Liedermacher an kreativen Freiheiten im Umgang mit dem Schubert-Material?
Knyphausen: Ich bin nicht nur Textdichter, sondern in erster Linie Sänger. Durch die Konzentration des Text- und Musikmaterials auf ein Leadsheet, was die Basis für unsere Arrangements und die eigenschöpferische Ausgestaltung ist, gewinne ich sehr viel Freiraum. Auch wenn ich eine Coverversion von Udo Lindenberg mache, schaue ich erst, was im Text und in der Musik steckt. Schließlich soll meine Version so klingen, als hätte ich selbst das geschrieben. Kai hat Leadsheets vorbereitet, aus denen ich in bewusster Lagerfeuerstimmung auf der Gitarre improvisiert und experimentiert habe. Zum Beispiel habe ich über einen Einfall Schuberts gesprochen oder einen anderen versuchsweise mit kubanischen „Melodiechen“ unterlegt. Ich hatte immer das Gefühl von vielen musikalischen Freiräumen. Anfangs wollte ich mich sogar an die altehrwürdigen Gedichte heranwagen und diese umtexten. Davon bin ich aber ganz schnell abgekommen.
Wo sehen Sie sich zwischen den Kategorien von Arrangement, künstlerischer Überformung und freier Neuschöpfung?
Schumacher: Bei manchen Liedern haben wir allenfalls die Tonlage verändert und die Intros reduziert. „Nähe des Geliebten“ geht schon ziemlich weit weg vom Original. Teilweise haben wir die Arrangements verändert. Bei „Gute Nacht“ hatten wir bildliche Vorstellungen, wie jemand durch den Schnee stapft und kaum vorwärtskommt: alles extrem, in die Breite und zäh – also genau am Text und dessen ziemlich mieser Aura.
Knyphausen: Zwischen den Polen Original und Neuschöpfung haben wir alle Möglichkeiten und Übergangsformen ausgeschöpft. Im Gegensatz zu klassisch ausgebildeten Sängern gehören solche Modellierungen zu unseren Kernaufgaben.
Sind Ihnen bei der kreativen Reise zu Schubert andere Adaptionen untergekommen?
Schumacher: Ich hatte mir „mercy seat – winterreise“ mit Charly Hübner und dem Ensemble Resonanz angehört. Dort erhielt Schubert mit der Zuspitzung durch einen Schauspieler eine Theatralität, die ich in dieser Form nicht wollte. Franui fand ich sehr interessant – und vor allem Hans Zenders Instrumentation der „Winterreise“ für Kammerorchester. Er hat zutiefst beeindruckend mit akustischen Bildern gearbeitet.
Unterscheidet sich eine solche Expression nicht stark von Ihren jüngeren minimalistischen Klangschöpfungen?
Schumacher: Gerade der Kontrast hat mich angesprungen. Ich sitze ja nicht ständig am Rechner und generiere dort pausenlos abstraktes Material. Ich liebe große Melodien und bin ein großer Pop-Fan. Die perfekte Gestaltung eines Songs von dreieinhalb Minuten Dauer ist die allerhöchste Kunst, die es in der Musik gibt. Als ich „nur“ Interpret war, habe ich an der Hochschule viel Mozart und Schubert gespielt, auch viele Zeitgenossen. Es gibt so viel gute Musik, die durch die Gegensätzlichkeit des Hörens und Erlebens gewinnt.
Welche Rolle spielte für Sie Schuberts Biografie und Lebensraum?
Knyphausen: Kai hat mir die Romanbiografie von Peter Härtling geliehen. Dieses Werk zwischen Realitätssuche und Fiktion hat mich beeinflusst. Teilweise wurde auch das „Winterreise“-Buch von Ian Bostridge zum Denkanstoß.
Bostridge beschreibt intensiv die kulturgeschichtlichen Muster und die Esoterik in der „Winterreise“…
Knyphausen: Esoterik kann nicht nur abstrakt, sondern auch sehr emotional sein. Ich will nicht den nüchternen Blick auf Schubert. Auch in unseren Adaptionen soll Schuberts poetischer und klanglicher Zauber wirken. Zwischen Härte und Überwältigung liegt für mich eine ganz große Spannung.
Schumacher: Es geht auch darum, Klischees aufzubrechen. Jeder Künstler erhält ein Image aufoktroyiert oder hat es selbst kreiert und promotet. Mozart war nicht nur der Schlawiner, Beethoven nicht immer grübelnd, Schubert nicht sein ganzes Leben lang depressiv. Die Öffnung von Verbreitungsmustern gehört zu unserem Projekt. Schubert mit Schwammerl-Bäckchen wie auf den Bildern will und kann ich mir nicht vorstellen. Das wird ihm als Mensch und Künstler keinesfalls gerecht.
Knyphausen: Mich berühren die Aspekte des Melancholikers, der ich auch selbst bin. Ich stelle mir Schubert im Wirtshaus vor, wie er nach drei bis vier Gläsern Wein immer lebhafter wird.
Schumacher: Wir sind beide Melancholiker und finden es schön, gemeinsam oder allein in Schuberts künstlerisch geformten Schmerz abzutauchen.
Was war letztlich der entscheidende Anstoß für eure Zusammenarbeit?
Schumacher: Schon bevor wir uns kennenlernten, haben mich Gisberts Poeme berührt. In diesen Atmosphären des Gangs durch die Nacht, die Absacker in einer Bar morgens um fünf und das stumme Beobachten des Treibens erkenne ich mich selbst in einer früheren Lebensphase. Es gibt wenige deutschsprachige Künstler, die derart intensiv bei sich und gleichzeitig schon zeitlos sind. Da hat mich fasziniert.
Warum sind Gisbert zu Knyphausens Lieder aus dem Schubert-Programm nicht auf dem Album „Lass irre Hunde heulen“?
Knyphausen: Zuerst hatten wir an eine wechselnde Reihenfolge zwischen Schuberts und meinen Liedern gedacht, aber meine Stücke sind schon veröffentlicht. Außerdem spielen wir bei den Live-Auftritten mit der lastenden Depression. Nach Schuberts „Ihr Bild“ kommt mein „Herzlichen Glückwunsch“, was die Stimmung noch mehr in den Keller zieht. Auf sarkastische Weise geht es um die ganz großen Verluste. In Konzerten schwingen diese Lieder intensiv miteinander. Darüber kann man sich fast schon wieder amüsieren. Diese Wirkungen ließe sich auf Tonträgern nie erreichen.