Wovon handelt Ihr neues Werk?
Gregor A. Mayrhofer: Das Oratorium schildert zentrale Krisen, nämlich der Klima- und der Umweltkatastrophe verbunden mit einer globalen sozialen Spaltung, und präsentiert unterschiedliche philosophische Lösungsansätze. Die Grundaussage lautet: Es gibt nicht die eine Wahrheit. Unsere komplexe Realität lässt sich nur im Dialog erfassen, und nur das gemeinsame Zusammenwirken aller kann zu Veränderungen führen.
Die vier Gesangssolisten verkörpern je eine philosophische Grundhaltung. Welche sind das?
Mayrhofer: Der Dataist denkt und argumentiert ausschließlich in empirisch messbaren Zusammenhängen. Die Humanistin hält hingegen die Ideale von sozialer Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Eigenverantwortung hoch. Die Theistin wiederum vereint das Spirituelle und das Künstlerische in sich und appelliert daran, die Natur nicht als bloßes Ausgangsmaterial zur Befriedigung unseres Konsumbedürfnisses zu sehen, sondern als beseelte Welt. Sie glaubt an eine höhere Instanz, die Hoffnung schenkt und uns retten wird. Der Skeptizist entlarvt seinerseits die oberflächliche Wirkungslosigkeit der vorherigen Ideologien, bietet selbst aber keine Lösung an. Er kann nur kritisieren.
Wo würden Sie sich selbst verorten?
Mayrhofer: Jede erfüllte Persönlichkeit trägt alle vier Anteile in sich und auch in unserer Gesellschaft finden sich jeweils Repräsentanten. Ich bin bekennender Agnostiker, fühle mich aber dem poetischen Anteil der Theistin verbunden. Zugleich bin ich von der Wissenschaft überzeugt. Kein weitsichtiger Forscher würde sagen, dass nur das absolut Messbare relevant und alles andere sinnlos ist. Im Umkehrschluss kann kein Theologe ernsthaft behaupten, dass die Rettung allein im Übernatürlichen liegt.
Ein weltliches Oratorium, das auf der Umwelt-Enzyklika des Papstes basiert. Wie passt das zusammen?
Mayrhofer: Ich stehe der Kirche als Institution skeptisch gegenüber. Zugleich war es für sie ein riesiger Schritt, sich zu Umweltfragen zu äußern, dem wollte ich offen begegnen. Der Papst fordert in seiner Enzyklika „Laudato si’“ die Weltgemeinschaft dazu auf, deutlichere Konsequenzen aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu ziehen. Man könne Umweltschutz nicht länger ohne die soziale Frage denken. Sein dringlicher Appell, dass wir uns alle ungeachtet kultureller, religiöser und philosophischer Differenzen im Dialog begegnen müssten, hat mich überzeugt. Die Probleme sind zu groß, als dass wir den Luxus hätten, uns noch weiter auseinander zu dividieren. Aus meiner ursprünglichen Idee, ein Stück über den Umweltschutz zu schreiben, ist ein großes Werk geworden, das generelle Fragen stellt: Sind wir Menschen rationale Denker oder Träumer? Sind wir so weit entwickelt, dass wir über der Natur stehen und diese bewahren müssen oder sind auch wir nur etwas intelligentere Tiere, die nicht anders können als ihren antrainierten Verhaltensmustern zu folgen?
Wie ist es überhaupt zu diesem Werk gekommen?
Mayrhofer: Die Initiative ist von der Stiftung Kulturelle Erneuerung ausgegangen, die eine Vertonung der Umwelt-Enzyklika wollte. Vor etwa drei Jahren haben Markus Vogt, Professor für Sozialethik und Theologie an der LMU München, und ich mit der textlichen Umsetzung begonnen. Die Enzyklika ist ja sehr umfangreich und nicht direkt zum Singen geeignet. Das Oratorium sollte weder rein religiös noch rein weltlich werden, so dass wir lange gefeilt haben. In dieser Zeit sind mehr als einhundert Textversionen entstanden. Ich hoffe, dass es uns gelungen ist, mit „Wir sind Erde“ möglichst viele Zuhörer aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten anzusprechen.
Auch das Orchester des Wandels hat den Entstehungsprozess begleitet.
Mayrhofer: Dieser Klangkörper, ausgehend von Musikerinnen und Musikern der Staatskapelle Berlin, beschäftigt sich seit rund zehn Jahren explizit mit Klima- und Naturschutz, daher erschien er mir und der Stiftung Kulturelle Erneuerung als prädestiniert für „Wir sind Erde“.
Was erwartet das Publikum der Uraufführung in musikalischer Hinsicht?
Mayrhofer: Der erste Satz schildert ausgehend von einem Tropfenmotiv unmittelbar die Katastrophe und läuft einen rasenden Stillstand zu, quasi als Sinnbild für das absurde Streben nach Wachstum in unserer Gesellschaft. Der zweite Satz präsentiert die vier Lösungansätze: Für den Dataisten habe ich als Ausdruck verschiedener mathematischer Muster symmetrische Rhythmen und Intervallkonstellationen gebaut. Die Musik der Theistin ist ganz zart und kirchentonal angehaucht. Das Hauptmotiv der Humanistin ist am Tritonus angelehnt: oberflächlich gesehen die gerechteste Teilung der Oktave in der Mitte, doch klanglich läuft das Intervall in die Leere, so wie oftmals eine zu einfach gedachte Gerechtigkeit, die sich nicht realisieren lässt. Der Skeptizist hat eine Art Passacaglia, die mit jeder Wiederholung einen Ton absinkt. Das symbolisiert einerseits seine bohrenden Nachfragen, anderseits aber auch seinen fehlenden Lösungsansatz. Der vorletzte Satz beinhaltet das „Laudato si’“, den wunderschönen Sonnengesang des Franz von Assisi, an dessen Ende alle vier Solisten ihre Motti gegeneinander singen. Alle reden, und nichts verändert sich. Daraus entwickelt sich im Finale eine große Stille, aus der ich, wieder mit dem Tropfenmotiv, Hoffnung aufkeimen lasse.
Glauben Sie, dass Musik zu Verhaltensänderungen führt?
Mayrhofer: Wir können doch nicht nur Mozart, Wagner, Strawinsky und die neueren Komponisten spielen und so tun, als wäre die Welt in Ordnung! Der Wirkungsbereich von klassischen Musikern ist im Vergleich zu anderen Branchen zwar gering, dennoch glaube ich, dass wir die Momente, in denen uns die Menschen zuhören, für Denkanstöße nutzen müssen. Musik als emotionale Kunst kann hoffentlich neue Kanäle öffnen. Bei „Wir sind Erde“ kommt im Übrigen jedes Ticket einem Wiederaufforstungsprojekt zugute. Konzertbesucher tun hier also proaktiv etwas für die Umwelt.
Wie fühlen Sie sich als Komponist und Dirigent wenige Tage vor der Uraufführung?
Mayrhofer: Ich bin wahnsinnig vorfreudig und aufgeregt. „Wir sind Erde“ ist mein bisher größtes Werk, sowohl in seiner abendfüllenden Dimension als auch ob der Tatsache, dass mir sein Kern so sehr am Herzen liegt. Ich bin gespannt, ob die Musik dem Publikum etwas Erfüllendes mitgeben und neue Türen öffnen wird.