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Interview Hilary Hahn

„Und dann kommt man plötzlich an eine Tür“

Hilary Hahn über ihre deutschen Vorfahren, die Geheimnisse von Bachs musikalischer Architektur und ihre Erfahrungen 
mit zeitgenössischen Komponisten.

vonChristian Schmidt,

Für Yehudi Menuhin stellten Johann Sebastian Bachs Partiten und Sonaten für eine Geige allein „das Alte Testament der Violinmusik“ dar. Soeben 39 geworden, hat nun Hilary Hahn ihre Gesamtaufnahme der Solowerke vollendet, die sie mit 17 Jahren begann.

Sie werden oft nach Ihren deutschen Vorfahren aus der Pfalz gefragt. Wie nah fühlen Sie sich Bach unter dem Aspekt, dass Sie deutsche Wurzeln haben?

Hilary Hahn: Naja, Bach hat nicht unbedingt etwas mit meiner Familiengeschichte zu tun. Sprache und Musik sind sehr eng miteinander verbunden, und die deutsche Musik gehört ohnehin zum sehr prominenten Repertoire. Ich habe sie schon sehr früh kennengelernt, als meine Vorfahren noch kaum eine Bedeutung für mich hatten. Wenn mir meine Lehrer große ältere Aufnahmen empfohlen haben, handelte es sich oft um dieses deutsche Repertoire. So bin ich der Musik eher aus historischer Perspektive verbunden.

Spüren Sie trotzdem irgendwelche deutschen Wurzeln in der Art zu musizieren, oder ist das gar kein Thema für Sie?

Hahn: Ehrlich gesagt habe ich nur ein paar sehr entfernte Verwandte, die ich mal getroffen habe, als ich in Bad Dürkheim in der Pfalz war. So beschränkte sich meine Verbindung zur deutschen Kultur lange Zeit auf die „Kaffeestunde“ und die teilweise deutschsprachigen Gottesdienste, zu denen mich meine Eltern mitnahmen. Ich hatte zwar schon in der Schule Deutsch gelernt, aber die eigentliche Verbindung zur deutschen Kultur kam erst wirklich zustande, als ich hierher kam, um zu arbeiten.

Wie kamen Sie dann darauf,
 die gefühlt 101. Aufnahme von Bachs Partiten und Sonaten anzugehen?


Hahn: Meine Verbindung zu Bach stammt aus meiner Studienzeit. Meine ersten Lehrer waren keine Deutschen, sondern kamen aus der russischen und belgischen Schule, aber sie verehrten ihn sehr. Für mich war nicht entscheidend, woher er kam, sondern Bach war einfach Bach: ein universaler Musiker, mit dessen Werken ich mich täglich beschäftigt habe. Er beeinflusste meine Art, wie ich mich Musik nähere, was Ausdruck, Phraseologie und Musikalität betrifft. Bezüglich der Aufnahme wurde ich einfach gefragt, denn es vergeht seit meiner Teenagerzeit kaum ein Konzert oder Recital, bei dem ich keinen Bach spiele – entweder im Programm selbst oder als Zugabe. Natürlich weiß ich, dass es sehr viele Aufnahmen der Partiten und Sonaten gibt, aber sie haben eben schon lange diese sehr persönliche Bedeutung für mich.

Hilary Hahn
Hilary Hahn © Dana van Leeuwen/Decca

Worin genau besteht für Sie ihre Anziehungskraft? Immerhin erscheint sie manchem ein wenig karg.


Hahn: Die Leute bewerten das sehr unterschiedlich. Entweder sie sehen sie als sehr komplex, reich und emotional an oder eben als sehr mathematisch, geradezu wissenschaftlich. Manche meinen sogar, es sei kalte Musik. Ich empfinde das nicht so. Es liegt sehr viel darin. Durch die komplexe Struktur der Polyfonie gibt es endlose Möglichkeiten der Phrasierung, die ich immer wieder neu entdecke. Zum Beispiel habe ich in meinem gestrigen Konzert die Gigue aus der dritten Solopartita in E-Dur zugegeben, die ich schon mit sechzehn Jahren auf meinem ersten Album aufgenommen und bestimmt hundert Mal gespielt habe. Und trotzdem überrascht sie mich immer wieder, und ich entdecke dabei Dinge, die mir vorher noch nicht aufgefallen waren. In dieser polyfonen Musik liegen noch unendlich viele Geheimnisse verborgen.

Das heißt für Sie, dass Bach
 auf zwei Arten beeindruckt: einerseits durch die
 Architektur seiner Musik, andererseits durch deren emotionale Aussage?

Hahn: Natürlich war Bach ein großer Techniker und ein begnadeter Musiker, aber die Struktur seiner Werke war kein Selbstzweck. Als Komponist war er sehr progressiv, sehr modern. Ich vergleiche es mal mit einem Haus: Man tritt hinein und sieht, wie es gebaut ist. Dann kommt man plötzlich durch einen Flur an eine Tür, die man nicht erwartet hätte. Dahinter ist ein erstaunlich verwinkeltes Zimmer, und an der Stelle, wo man vorher noch ein Fenster vermutete, hängt plötzlich ein Gemälde. Trotzdem passt alles wunderbar zueinander, und man kann immer neue Wege durch das Haus finden.

Nur hat das Publikum im Zweifel nur eine Chance, es zu erkunden. Auf welche Weise können Sie dann Ihre Neugier auf Ihre Zuhörer übertragen?

Hahn: Wer ein Stück zum ersten Mal auf sich wirken lässt, kann nicht alles auf einmal hören, das ist klar, selbst wenn es nicht so komplex ist wie Bach. Wer ins Konzert geht, nimmt es erst mal sehr ernst. Aber das Publikum ist sehr heterogen, und es ist völlig in Ordnung, wenn jemand meint, diese Musik sage ihm nichts. Aber die meisten machen doch ihre unterschiedlichen Erfahrungen und erleben diese Musik auch in unterschiedlichen Stimmungen oder Lebensphasen ganz anders. Wenn man zu sehr da­ rauf bedacht ist, die Struktur der Musik zu erkennen, vergibt man sich vielleicht selbst die Möglichkeit, sie intuitiv an sich heranzulassen. Sie intellektuell zu durchdringen, ist wirklich sehr spannend, aber nicht entscheidend für das Verständnis.

Was heißt denn, diese Musik
 zu verstehen?


Hahn: Für das Publikum bedeutet das vor allem, eine Verbindung mit der Musik aufzubauen, und darin liegt meine Aufgabe. Dafür muss man als Zuhörer nicht unbedingt wissen, wo welche Note warum steht. Ich bin ja keine Lehrerin.

Daraus ergibt sich ja auch ein großer Unterschied zwischen einem Live-Konzert und einer CD-Aufnahme, oder?

Hahn: Na klar! Im Konzert spüre ich sofort, ob ich meine Zuhörer erreiche oder nicht. Im Studio fehlt die direkte Publikumsreaktion: Werde ich durchdringen? Erreicht mein Spiel jemanden da draußen? Der eine hört es im Auto, der andere im Sessel zu Hause. Dazu kommt, dass im Studio der Abstand zu den Mikrofonen viel geringer ist als derjenige zu den Ohren der Zuhörer im Saal. Das beeinflusst zum Beispiel Technik und Artikulation ungemein. Bei einer Produktion überprüfe ich ständig den Klang, spiele und höre immer wieder. Wie kann ich ausdrücken, was ich ausdrücken will? Da braucht man viele Korrekturen.

Hilary Hahn
Hilary Hahn © Dana van Leeuwen/Decca

Zusätzlich zu Ihren Gastspielen bei großen Orchestern geben Sie derzeit auch Bach-Recitals.

Hahn: Die Konzertsaison ist sehr voll, das ist richtig. Bach prägte schon die ersten Solorecitals in meinem Leben. Unter anderem habe ich ihn dieses Jahr beim Orchestre de Radio France gespielt, wo ich Artist in Residence bin. Hier werden wir aber auch die Weltpremiere des Violinkonzertes von Einojuhani Rautavaara realisieren. Es war das letzte Werk, das er komponiert hat, daher blieb es ein Fragment.

Empfinden Sie eine Verantwortung für die Aufführung zeitgenössischer Musik?


Hahn: Das nicht, aber ich spare sie nicht aus und höre sie auch gern, und wenn mir eine Lücke im Repertoire auffällt, dann kann ein neues Stück wunderbar passend sein. Die Zusammenarbeit mit heutigen Komponisten ist oft inspirierend, weil man am Prozess der Kreation beteiligt sein darf. Dabei gibt es Kollegen, die niemals auch nur eine Note ändern würden, und andere, die gern in den Austausch treten. Beides hat seine Berechtigung.

Wie halten Sie’s mit der Kammermusik?


Hilary Hahn: In der Hochschule hatte ich ein festes Streichquartett und ein Klaviertrio, aber wir sind nur zu Hause in Philadelphia aufgetreten. Vor ein paar Jahren habe ich mal mit zwei guten Kollegen bei einem Festival Klaviertrios gespielt. Man braucht für so etwas unbedingt ein festes Ensemble, das Augen und Ohren offen hält und schnell reagiert. Das kann man nicht mit jedem nach einer Probe machen. Aber ich denke, das kommt irgendwann wieder.

Sehen Sie hier Hilary Hahn mit dem Presto aus Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 1:

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