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Interview Hille Perl

„Das Landleben ist ein herrliches Korrektiv“

Hätte sie nicht die Gambe für sich entdeckt, wäre Hille Perl wohl Bäuerin geworden. Stattdessen avancierte sie zu einer der bedeutendsten Künstlerinnen ihres Fachs

vonSabine Näher,

Die 1965 in Bremen geborene Musikerin Hille Perl wuchs in einem musikliebenden Elternhaus auf: Der Vater, Kantor und Musiklehrer, spielte Cembalo und Orgel; in der Kirche und zuhause wurde viel und gerne gesungen und musiziert. Die drei größeren Geschwister hatten alle bereits ein Instrument erlernt, als die fünfjährige Hille ihre Liebe zur Gambe entdeckte. Sie war begeistert von deren spezifischem Klang und war sich des Vorteils bewusst, dass sich dieses Instrument niemand sonst in der Familie ausgewählt hatte. Heute ist Hille Perl eine weltweit gefragte Solistin und Kammermusikpartnerin. Eines ihrer Ensembles ist das Gamben-Duo mit Tochter Marthe.

Ein Duo mit der eigenen Tochter am gleichen Instrument: Ist das tatsächlich völlig unproblematisch und konfliktfrei, Frau Perl?

Hille Perl: Als Kind hat Marthe ja zunächst Geige gespielt. Als sie vierzehn war, fragte sie: „Ich glaube, ich möchte Gambe spielen. Hättest du etwas dagegen?“ Hatte ich natürlich nicht! „Tu einfach, was du willst“, antwortete ich ihr, habe mich dann aber völlig rausgehalten aus ihrem Unterricht. Als sie dann schon eine fortgeschrittene Studentin war, wollte sie gerne bei mir studieren: ein Riesenkompliment! Ich habe aber erst einmal meine anderen Studenten gefragt, was sie davon halten würden. ,Du behandelst uns doch eh alle wie deine Kinder‘, meinten die bloß. Ich habe sie dann auch wirklich behandelt wie alle anderen, war streng zu ihr und habe Fleiß eingefordert. Heute musizieren wir absolut auf Augenhöhe miteinander. Jede von uns ist eigenständig – und eigensinnig. Wer Musik macht, sollte sich ohnehin nie mit anderen vergleichen, sondern ergründen, was man zu sagen hat, das sonst ungesagt bliebe. Und damit sein ganz eigenes künstlerisches Profil entwickeln.

Nun musizieren Sie ja nicht nur mit der Tochter, sondern auch mit ihrem Mann, dem Lautenisten Lee Santana. Eher Vorteil für die musikalische Beziehung – oder auch einmal Fluch?

Perl: Auf lange Sicht überwiegt der Vorteil, würde ich sagen. In den ersten zehn Jahren, dem Findungsprozess, war es dagegen mitunter schon auch recht schwierig. Nicht zuletzt, weil wir beide noch nicht das heutige künstlerische Niveau hatten. Und etwas zu wollen, aber noch nicht zu können, wirft Konflikte auf. Die Annäherung an die Vorstellung braucht einfach Zeit. Ebenso das Vertrauen zu entwickeln, dass es schon gut und richtig ist, was der andere auf der Bühne macht. Mittlerweile kennen wir uns sehr gut und haben das Kräfteverhältnis ausbalanciert. Diese Entwicklung macht man aber auch mit anderen engen musikalischen Partnern durch. Ob man auch privat verbunden ist, spielt dabei eigentlich keine Rolle.

Hille Perl
Hille Perl © Foppe Schut

Sie haben sich als fünfjähriges Mädchen die Gambe erwählt: Was zeichnet dieses Instrument in Ihren Augen aus?

Perl: Wir gingen als Familie häufig ins Konzert. Und in der „Pro Musica Antiqua“-Reihe in Bremen habe ich das Leonhardt-Quartett erlebt. Wieland Kuijkens grandioses Gambenspiel hat mich derart fasziniert, dass ich das auch machen wollte. Die Gambe hat ja nicht zuletzt den großen Vorteil, dass es sie in allen Größen gibt. Als Kind habe ich natürlich Diskant-Gambe gespielt, aber das Tolle ist, dass man auch als erwachsener Musiker die ganze Gambenfamilie mit ihren vielfältigen Einsatzmöglichkeiten zur Verfügung hat, kulminierend im Consort-Spiel. Zudem kann man auf den sechs bis sieben Saiten natürlich leichter Akkorde spielen und hat einen weitaus größeren Tonumfang, der vom Geigen- bis zum Kontrabassregister reicht. Die Gambe ist ein ebenso tolles Solo- wie Continuo-Instrument; man kann sich auch wunderbar beim Singen selbst begleiten. Und dann natürlich ihr besonderer Klang: sehr obertonreich, aber auch sehr grundtönig, erdig, warm. Faszinierend eben!

Vor zwanzig Jahren musste man dem breiten Publikum ja noch erklären, was das überhaupt ist, so eine Gambe. Passiert Ihnen das heutzutage auch noch?

Perl: Da hat sich wirklich viel getan! Die Gambe ist im Konzertleben mittlerweile viel präsenter. Daran ist Jordi Savall nicht ganz unbeteiligt: Er hatte wirklich eine Vorreiterrolle. Zumindest im Bildungsbürgertum gibt es heute kaum noch jemanden, der die Gambe gar nicht kennt. Ich merke das auch bei meinen Studenten: Früher waren es meist Geiger oder Cellisten, die zur Gambe wechseln wollten. Jetzt kommen mehr und mehr junge Leute, die wie ich schon früh und direkt mit der Gambe begonnen haben. Ich würde sagen, wir sind immer noch eine Minderheit, aber eine, die stetig wächst. Das hängt auch damit zusammen, dass junge Gambisten wie meine Tochter sich nicht auf die Alte Musik beschränken, sondern sich auch in der Neuen Musik, der Weltmusik und sogar der Popmusik einbringen. Wenn ich so sehe, was Marthe alles macht, in welchen musikalischen Welten sie sich tummelt, das finde ich ganz toll! Ich war zwar auch schon offen für Neues, aber sie überschreitet völlig angstfrei alle musikalischen Grenzen. Das eröffnet den Gambisten jede Menge neue Literatur. Hinzu kommt, dass in der Alten Musik ja auch noch längst nicht alles abgegrast ist und wir noch vieles entdecken können.

Wie kommt es eigentlich, dass gerade die Alte Musik im Konzertsaal oft so lebendig und innovativ wirkt?

Perl: Meiner Ansicht nach fehlt der traditionellen klassischen Szene meist die Fähigkeit, Musik aus dem Kontext zu verstehen, in dem sie entstanden ist, also welche Instrumente verwendet wurden, wie die Aufführungspraxis war. Der Anlass, der Ort der Aufführung, aber auch die jeweiligen Lebensumstände des Komponisten sollten dabei erforscht werden. Alle diese Fragestellungen sind sehr wichtig, um einen Weg zu finden, diese jahrhundertealte Musik heute so aufzuführen, dass der Hörer, der sich heute in einem völlig anderen Kontext befindet, sie gleichwohl unmittelbar versteht. Daraus speist sich die Lebendigkeit der historisch informierten Aufführungspraxis. Und ich denke, darum sollten sich alle Musiker bemühen: Die Sprache des Materials so zu durchdringen, dass sie sie für den Hörer im 21. Jahrhundert übersetzen können.

Wenn man Ihnen so zuhört, scheint es kaum vorstellbar, aber hätten Sie auch einen anderen Beruf wählen können?

Hille Perl
Hille Perl © Foppe Schut

Perl: Ja, Bäuerin! Aber ich habe ja leider kein Land … Allerdings hätte ich sicher auch als Bäuerin Musik machen wollen. Und so lebe ich nun seit zwanzig Jahren als Musikerin auf dem Land mit Schafen, Gänsen, Hühnern, Hund und Katzen. Ein bisschen wie bei Pettersson! Ich finde, das Landleben ist ein herrliches Korrektiv zum Musikerberuf: Da sind wir immerzu mit anderen im Kontakt, reisen unentwegt und stehen unter ständiger Beobachtung. Das ist schon auch anstrengend. Mein ländliches Zuhause ist mein Ruhepol. Ich brauche die Verbindung mit Pflanzen und Tieren.

Haben Sie für 2017 Wünsche?

Perl: Also ich möchte auf keinen Fall sterben, sondern weiterhin fröhlich sein und viel Musik machen! Dem Globus würde ich wünschen, dass er sich mal ein Jahr Pause nehmen könnte zum Regenerieren: Es wird nix Neues produziert, wir bleiben alle zuhause, essen unsere Vorräte auf. Nur die Ärzte und die Lehrer dürfen arbeiten. Wir geben dem Land, dem Wasser und der Luft eine Atempause. Ein Wunsch, der vernünftig wäre, aber wohl nicht realisierbar ist. Mir selbst wünsche ich, im neuen Jahr mehr mit Improvisation zu arbeiten – und vielleicht auch ein neues Duo zu gründen.

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