Kurz vor dem Interview traf die Pressemitteilung ein, dass Igor Levit den Opus Klassik für sein Schostakowitsch-Album „ON DSCH“ erhält. Viel erstaunlicher als dieser Preis ist indes die Tatsache, dass der Pianist seit 2018 jährlich ein Album veröffentlicht. Für seine eben erschienene CD wandelte er, wieder einmal, auch auf Pfaden fern des Mainstreams.
Wie kamen Sie auf die Idee zum Album „Tristan“?
Igor Levit: Vor vier oder fünf Jahren hat mich der Intendant der Salzburger Festspiele Markus Hinterhäuser angerufen und gefragt, ob ich mir vorstellen könne, mit den Wiener Philharmonikern und Franz Welser-Möst Henzes „Tristan“ zu spielen. Ich kannte das Stück nicht, aber ich vertraue Markus blind, also habe ich sofort Ja gesagt.
Es ist vor allem ein recht übeintensives Werk …
Levit: … das ich etwa ein Jahr lang gelernt habe. Umso größer war dann die Freude, es zu spielen. Franz und ich waren uns nach dem Konzert sofort einig, dass wir dieses Stück noch einmal spielen müssen, und so kam es zur zweiten Aufführung mit dem Gewandhausorchester. Ich habe auch gleich gesagt, dass ich das aufzeichnen möchte. Mich hat vor allem fasziniert, dass im Grunde genommen programmatisch alles in der Nacht passiert, Henze selbst schreibt in seinen Aufzeichnungen von Albträumen. Es ist ja auch ein traumhaftes, wahnhaftes Stück. So kam ich dann auch auf die anderen Kompositionen auf dem Album.
Die Sie vor ziemlich genau zwei Jahren eingespielt haben, im ersten Corona-Herbst. Wie haben Sie die Sessions erlebt?
Levit: Zur Zeit der Aufnahme gab es schlicht nichts anderes. Wir haben zum Teil die Berliner Philharmonie nutzen können, weil sie leer stand, zum Teil das Gewandhaus. Wenn wir in den Pausen rausgegangen sind, war die Stadt menschenleer. Ich habe es aber gleichzeitig auch als unglaublich befreiend erlebt: Es gab Raum, es gab Ruhe, es gab Zeit. Es waren sehr zwiespältige Wochen, anders als im ersten Lockdown, den ich schon auch als Rausch erlebt habe.
Im positiven oder negativen Sinn?
Levit: Positiv! Es gab auch dunkle Tage, ohne Frage. Aber dieser Austausch, die Kommunikation, das Miteinander mit dem Publikum aus dem Wohnzimmer heraus … Solange ich atme, werde ich das nicht vergessen. Das war im zweiten Lockdown anders, als es anfing mit dieser Mischung aus Verunsicherung, fundamentalen politischen Fehlern und einer sehr gereizten Grundstimmung in der Gesellschaft. In dieser Zeit waren die Aufnahmen ein Halt.
Haben Sie sich mal überlegt, wie es Ihnen ergangen wäre, wenn Sie die Corona-Zeit in einer anderen Lebensphase, sagen wir: als Studienabsolvent erlebt hätten?
Levit: Ich bin mit jeder Faser meines Körpers ein Realist. Hätte-Wäre-Wenn spielt in meinem Leben keine Rolle. Es ist jetzt passiert.
Dann bleiben wir bei der Realität: Ihnen steht eine riesige Tournee bevor in einer Zeit, in der man überhaupt nicht abschätzen kann, ob die Menschen endlich wieder Konzerte besuchen und ob diese überhaupt stattfinden können.
Levit: Auch da kann ich nur sagen: Ich bin Realist. Es gibt Dinge, die kann ich nicht beeinflussen. Es zerreißt mir das Herz zu sehen, in welchem Zustand die internationale Veranstaltungswelt ist. Und ja, das macht mir große Sorgen, aber ich kann nicht von morgens bis abends mit dem Kopf gegen die Wand laufen. Ich habe mich dem verweigert in der Pandemie, und ich verweigere mich dem auch jetzt.
Haben wir es mit selbsterfüllender Prophezeiung zu tun, dass, wenn gefühlt alle Medien über das ausbleibende Publikum schreiben, erst recht niemand mehr in die Konzerte kommt?
Levit: Weiß ich nicht. Darüber zu schreiben ist nun mal euer Job! Man kann beobachtend, wertend, kritisch schreiben. Man kann aber auch in ein zynisches Twitter-Geraune abrutschen, welches niemandem hilft.
Interessant, dass Sie das als leidenschaftlicher Twitterer sagen.
Levit: Ja, das sage ich. Ich bin in dieser Twitterwelt seit etwa zehn Jahren, und ich nehme mir das Recht heraus, mich zu verändern. Die Art, wie ich vor fünf Jahren kommuniziert habe, ist nicht mehr die Art, wie ich heute kommuniziere. Das ist ja auch ganz normal.
Sie sind leiser geworden.
Levit: Nein! Ich bin bewusster geworden, bin klarer geworden, steige einfach in bestimmte Dinge nicht mehr ein, dafür ist mir die Zeit zu schade. Wer mir ans Bein pinkeln will auf Basis von dummem Zynismus, den strafe – oder belohne – ich mit Schweigen. Ich bin weder leiser noch schüchterner noch sonst was geworden. Es ist nur: I’ve done it, I’ve seen it, I had it – danke. Aber wenn man darüber spricht, dass Kinos, dass Theatern, dass Konzertsälen das Publikum fehlt, von einigen Blockbustern oder Stars einmal abgesehen: Das kann nicht in unserem Interesse sein. Das geht uns alle an, auch die wenigen Glücklichen, die noch genug Publikum generieren können. Ich glaube, dass es etliche Instrumente gibt, die wir nutzen können und nutzen müssen, um wieder ein blühendes Kulturleben zu erschaffen. Aber wir müssen uns auch zugestehen, dass wir vieles nicht unter Kontrolle haben, sei es nun hinsichtlich der Coronapandemie oder der Gas- und Stromkrise oder der Inflation oder was auch immer. Und ich kann jeden verstehen, der jeden Cent umdrehen muss und sich dann entschließt, nicht ins Konzert zu gehen. Dem kann man doch nicht sagen, er solle sich nicht so anstellen!
Wie zufrieden sind Sie mit den Entscheidungen der letzten Jahre hinsichtlich des Kulturlebens?
Levit: Puh, das würde jetzt jeden zeitlichen Rahmen sprengen. Natürlich gab es politische Entscheidungen, die ich falsch fand.
Zum Beispiel?
Levit: Es wurde einerseits gesagt: Wir helfen Unternehmen. Auf welche Weise das geschehen soll, war Ländersache. Und es gab einige Bundesländer, die gesunde Unternehmen dazu gezwungen haben, sich erst mal quasi auf Null runterzusparen, bevor sie Staatshilfe bekommen haben. Das war verrückt! Ich weiß von Agenturen, von Veranstaltungsbüros, von Produktionsbüros, die im Grunde genommen keine Staatshilfen bekommen haben, weil sie zu gesund waren. In bestimmten Fällen sind auch Künstlerinnen und Künstler durchs Raster geflogen. Aber ich habe auch die andere Seite kennengelernt, hatte sehr viel Kontakt zu politisch Verantwortlichen und sie als Entscheidungsträger erlebt, die zwar nicht alles sofort richtig gemacht haben. Aber sie haben gelernt, und bis in die allerobersten Etagen hinein wollten sie tatsächlich helfen. Klar, für sehr viele Menschen war und ist diese Zeit unfassbar schwer. Ich meine: Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben den Musikerberuf aufgegeben?! Aber dass die Politik uns generell im Stich gelassen hätte – ich weigere mich, so etwas zu sagen!
Wie sind Sie denn an all die Politiker herangetreten?
Levit: Man trifft sich. Einige Verbindungen sind in der Pandemie entstanden, und einige waren auch schon vorher da.
Warum beteiligen Sie sich eigentlich so rege an den gesellschaftlichen Diskursen?
Levit: Ich könnte jetzt mit einem berühmten jüdischen Witz antworten.
Bitte!
Levit: Dann ist meine Antwort: Warum nicht? Weil ich es halt tue, weil ich davon überzeugt bin, und weil ich es tun darf. Bei all den schlimmen Dingen, die wir zurzeit erleben und mit ansehen müssen, sollte uns allen eine Sache klar sein: Es gibt eine Verantwortung zur Positionierung und zum Formulieren einer Haltung – und es ist ein verdammter Luxus, das tun zu dürfen. Viele Menschen können das nicht. Haltung zu zeigen ist für mich alternativlos.
Wir können das Interview nicht mit dem Wort „alternativlos“ beenden.
Levit: Auf gar keinen Fall, wir brauchen eine andere Schlussfrage!
Auf meinem Zettel sind noch ein paar. Wissen Sie, wie groß Ihr Repertoire ist?
Levit: Nein, aber ich denke, ich könnte damit dreißig Klavierabende programmieren.
Führen Sie eine Liste über Ihre einstudierten Werke?
Levit: Nein, aber das wäre vielleicht eine ganz gute Idee.
Welches Stück haben Sie vor unserem Interview gespielt?
Levit: Gar keins, ich habe heute meine Wohnung aufgeräumt.
Kino-Tipp:
Igor Levit – No Fear
ab 6.10.
Film von Regina Schilling.
D 2022, 118 min