Das Tripelkonzert „Alisma“ des Schweizer Komponisten William Blank sollte schon letztes Jahr im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele uraufgeführt werden. Nun erfährt es seine Premiere beim Eröffnungskonzert des Internationalen Musikfests Hamburg via Stream. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg spielt unter Kent Nagano, die Solo-Parts übernehmen Mira Wang an der Geige und Daniel Ottensamer an der Klarinette. Jan Vogler, Solo-Cellist und Intendant der Dresdner Musikfestspiele, spielt den Cellopart. Wir haben den 57-Jährigen nach der Stream-Aufzeichnung in der Elbphilharmonie zum Interview getroffen.
Herr Vogler, was ist das für eine Musik, die William Blank da komponiert hat?
Jan Vogler: William Blank hat das Tripelkonzert im letzten Jahr zum Beethovenjubiläum geschrieben. Es ist inspiriert von Beethovens Tripelkonzert, einem Stück, das ich sehr liebe, auch weil es natürlich einen wunderbaren Cellopart hat. Blank hat sich jedoch in zwei Punkten komplett von Beethoven entfernt: Er hat als drittes Instrument die Klarinette anstelle des Klaviers gewählt und einen einzigen rhapsodischen Satz komponiert. Damit ist ihm ein sehr originelles Stück gelungen, das zum Teil auch im französischen Stil komponiert ist. Trotzdem ist es ganz individuell.
Ist es enttäuschend, ein neues Werk in diesem Format ohne Publikum erstmals aufzuführen?
Vogler: Ich denke, dass wir Musik im Moment sehr viel intensiver wahrnehmen. Ich habe seit über einem Jahr nicht mehr mit Orchester gespielt, weil nichts stattgefunden hat und alle meine Konzerte ausgefallen sind. Bei der Aufnahme vorhin waren nur wenige Leute im Saal, aber selbst die haben wir sofort gespürt. Auch die Nähe der Musiker untereinander, die man sonst als normal erachtet, war intensiv zu spüren. Es war wirklich frappierend, was für eine Konzentration und was für ein Fokus dort vorhanden war. Ich denke, dass wir sogar etwas Besonderes schaffen können, wenn wir während der Pandemie Musik machen.
Uraufführungen stehen bei Ihnen und auch bei den Dresdner Musikfestspielen regelmäßig auf dem Programm. Wie wichtig ist Ihnen zeitgenössische Musik im heutigen Konzertsaal?
Vogler: Rostropowitsch hat in seinem Leben über 180 Cellokonzerte uraufgeführt. Das werde ich nicht mehr schaffen. Aber ich bemühe mich, pro Jahr mindestens ein neues Werk zur Uraufführung zu bringen. Man muss unglaublich viel Musik zum Leben erwecken, um vielleicht das eine Werk zu finden, das das Publikum immer wieder hören möchte. Denn das Publikum entscheidet ja, ob ein Stück erfolgreich ist oder nicht. Warum ist die fünfte Sinfonie von Beethoven so beliebt? Weil jeder das Motiv kennt und weil jeder dieses Motiv immer wieder hören möchte.
Das Motto der Dresdner Musikfestspiele 2021 lautet „Dialoge“. Was bedeutet Dialog, vor allem in der aktuellen Zeit?
Vogler: Dass wir uns artikulieren. Man kommuniziert jedoch häufig auf des Messers Schneide, weil man schnell missverstanden wird. Der Dialog ist eigentlich immer eine Form der Sensibilisierung, denn man muss sich sensibel mit dem Gegenüber auseinandersetzen. Auch in dieser Situation nützt der Holzhammer nichts. Wir müssen versuchen herauszufinden, wie man etwas Wahres sagen kann, was der demokratischen Meinungsäußerung entspricht und trotzdem der Situation gerecht wird. Alle sind angespannt, aber gerade jetzt ist der Dialog sehr wichtig, vor allem, weil im Moment zu wenig Dialog stattfindet.
Wie groß war die Hoffnung, die Dresdner Musikfestspiele in diesem Jahr zumindest ansatzweise „normal“ veranstalten zu können? Und wie groß war die Enttäuschung, dass es so wieder nicht funktioniert?
Vogler: Wir sind so mit Feuerlöschen beschäftigt, dass wir gar keine Zeit haben, enttäuscht zu sein. Es hat mich allerdings sehr überrascht, wie schlecht die Bundespolitik mit der Pandemie umgeht und wie viele Organisationspannen es dort gab.
Sie planen eine Aufteilung der Festspiele in eine Streamingwoche, reduzierte Livekonzerte im Sommer und weitere Konzerte im Herbst. Wie plant man überhaupt ein Festival in diesen Zeiten? Worauf kann man aufbauen?
Vogler: Auf sein Team! In so einer schwierigen Situation muss jeder dreifach und vierfach arbeiten und ständig umdenken. Jetzt zeigt sich wirklich, dass wir in den letzten Jahren ein fantastisches Team aufgebaut haben, das jetzt auch in der Lage ist, sehr flexibel und schnell zu reagieren. Aber so schnell kann man manchmal gar nicht umplanen, wie sich die Situation zurzeit verändert – oder auch nicht verändert.
Viele Veranstalter satteln notgedrungen auf rein digitale Programme um. Wie wichtig ist Ihnen die Livekultur?
Vogler: Livekonzerte sind niemals ersetzbar. Das Streaming ist eine völlig neue Welt, in der es jetzt innerhalb kürzester Zeit riesige Fortschritte gegeben hat und die sich zusätzlich zum üblichen Konzertbetrieb aufbauen wird. Aber das muss man völlig getrennt betrachten. Streaming wird weiterhin kommen im ganz großen Ausmaß, aber es ersetzt das Livekonzert in keiner Weise.
Bereiten Sie sich auch darauf vor, dass für dieses Jahr geplante Livekonzerte möglicherweise nicht stattfinden können?
Vogler: Nein. Wir blicken immer wieder mit der Hoffnung auf die nächsten Monate, dass Kultur bald wieder stattfinden kann. Für mich gehört Kultur genauso zum Leben wie Essen, Trinken und Schlafen. Insofern werden wir nicht lockerlassen dafür zu plädieren, mit Differenzierung und mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, für kulturelle Veranstaltungen zu kämpfen.
Wie geht man mit dieser Unplanbarkeit um?
Vogler: Genau wie sonst auch. Man engagiert sich, legt so viel Enthusiasmus wie möglich an den Tag und versucht so intensiv und temperamentvoll wie möglich zu arbeiten. Natürlich ist der Energieverbrauch im Moment viel größer, weil der Gegenwind einfach wahnsinnig stark ist. Man muss enorme Kräfte aufbringen. Die Bundesregierung hat sehr viel verschlafen, vor allem was die Impfungen betrifft. Und auch jetzt zeigt sie so wenig Interesse an der Kultur. Daher haben wir die Pflicht zu beweisen, dass die Bürger in einer liberalen Demokratie auch die Regierung führen und nicht nur die Regierung die Bürger.
In einem Interview mit der Deutschen Presseagentur haben Sie gesagt, dass sich Ihre Haltung gegenüber den geltenden Corona-Maßnahmen drastisch geändert hat. Wie kam es dazu?
Vogler: Am Anfang der Pandemie war ich natürlich geduldig und diszipliniert. Ich war der Meinung, dass wir uns als Kulturbranche erstmal zurücknehmen müssten. Aber nach einem Jahr ohne Kultur ist einfach das Menschsein zu stark eingeschränkt. In Kriegen und in früheren Pandemien haben wir immer irgendwie versucht, den Menschen etwas Freude zu bringen. Wenn wir das jetzt komplett herausschneiden, kommt natürlich die Frage auf: Wie sehr liebt Deutschland seine Kultur? Das ist eine Frage, die auch bei mir im Kopf ab und zu auftaucht.
Sie leben in Dresden und in New York. In den USA haben Sie schon vor Monaten Ihre doppelte Impfung bekommen. Wie ist dort die Situation im Vergleich zu Deutschland?
Vogler: Man muss fairerweise sagen, dass die Situation in den USA im letzten Jahr unter Trump katastrophal war. Die Pandemie wurde praktisch ignoriert, Deutschland war dagegen im letzten Frühjahr sehr gut aufgestellt. Aber jetzt sind wir stark zurückgefallen und die USA haben extrem aufgeholt, sicherlich auch durch Biden. Die Situation ist dort also im Moment hoffnungsvoll und optimistisch. Vor allem in New York ist das Leben fast wieder normal.
Gibt es dort auch schon wieder eine funktionierende Klassikszene?
Vogler: Nein, dort haben die großen Häuser ganz einfach ein kommerzielles Problem. Da vieles privat finanziert ist, muss erstmal wieder die gesamte Maschinerie anlaufen. Aber es gibt auch sehr viele kleine Initiativen mit Ideen – es wacht langsam auf.
Was muss sich in der deutschen Kulturpolitik ändern?
Vogler: Differenzierung heißt das Wort der Stunde! Ein Jahr nach Pandemiebeginn gelten immer noch steife Regeln. Damit verbietet man etwas, was eigentlich sogar helfen könnte, für die Zukunft zu lernen, um in solchen Situationen Kultur sicher zu veranstalten. Das ist eine vergebene Chance. Wir haben Impfungen, wir haben Tests, wir haben Nachverfolgung. Jetzt sollte man differenzieren und ausloten, was möglich ist und was nicht – zum Beispiel mit Modellprojekten wie bei den Berliner Philharmonikern. Ich möchte auch nicht radikal nur dafür sein, alles zu öffnen. Aber keiner der Veranstalter, die ich kenne, ist leichtsinnig oder unvernünftig. Wir gehen sehr verantwortungsvoll mit der Situation um.
Termin-Tipp:
Die Streamingwoche der Dresdner Musikfestspiele beginnt am 24. Mai 2021. Hier gibt es weitere Infos.