Herr Queyras, in dieser Spielzeit sind Sie Artist in Residence des Gürzenich-Orchesters. Wie kam es zu dieser Residency?
Jean-Guihen Queyras: François-Xavier Roth und ich sind auf vielen Ebenen miteinander sehr vertraut. Wir sind schon lange freundschaftlich miteinander verbunden, haben aber auch – dies ist die künstlerische Ebene – gemeinsam viel Repertoire erarbeitet, zuletzt etwa mit dem Gürzenich-Orchester Strauss’ „Don Quixote“ eingespielt. Eine weitere wichtige Verbindung zwischen uns beiden ist unsere große Bewunderung für Pierre Boulez, der für mich ein wichtiger Mentor war. Ich hatte das große Glück, in den letzten fünfzehn Jahren oft in der Kölner Philharmonie im Rahmen verschiedenster Projekte aufzutreten. Und ich muss sagen: Ich liebe dieses Publikum!
Warum?
Queyras: Das ist schwer in Worte zu fassen. Man kommt auf die Bühne und spürt die Zuhörer ganz direkt. Sie sind im besten Sinne unkompliziert und aufrichtig. Da herrscht einfach eine großartige Energie im Konzertsaal.
Wie lange kennen Sie François-Xavier Roth schon?
Queyras: Seit den neunziger Jahren, also schon sehr lange. Das war während meiner Zeit beim Ensemble Intercontemporain, bei dem François-Xavier manchmal zu Gast war, die Bekanntschaft war damals aber nur flüchtig. In seiner Zeit als Chefdirigent des damaligen SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg haben wir öfters zusammengearbeitet, ich wohne ja in Freiburg.
Es ist beileibe nicht Ihre erste Residency. Was reizt Sie so an dieser Form der Zusammenarbeit?
Queyras: Als Solist hat man ein recht chaotisches Leben. In den letzten drei, vier Wochen hatte ich zum Beispiel ein großartiges, verrücktes Dutilleux-Konzert mit dem Orchestre de Paris, zuvor ein C.P.E.-Bach-Konzert mit der Sinfonietta Amsterdam, außerdem war ich für ein Lachenmann-Projekt mit Pierre-Laurent Aimard in Spanien. Das ist schon ein bisschen eine Karikatur des permanent reisenden Künstlers, und da ist so eine Residency ein wunderbarer Anker im Musikerleben. In Köln habe ich tolle und inspirierende Gesprächspartner, nicht nur François-Xavier, sondern auch zum Beispiel Patrick Hahn (künstlerischer Programmplaner des Gürzenich-Orchesters, d. Red.), der ein toller Gestalter ist. Das ist dann für mich ein kleines Stück Zuhause. Das Orchester bietet mir sozusagen ein Gästezimmer an, das ich mehrmals im Jahr beziehen darf.
Wie halten Sie den Kontakt zu den Orchestern, mit denen Sie außerhalb von Residencies zusammenarbeiten?
Queyras: Als Musiker hat man automatisch das Bedürfnis, gemeinsam mit Kollegen die Musik zu zelebrieren, gemeinsam mit ihnen zu „schwingen“. Wenn ich einfach nur kommen, mein Konzert spielen und mich hernach gleich wieder verabschieden würde – das würde für mich so niemals funktionieren! Als Cellist habe ich außerdem das Glück, dass da eine ganze Gruppe im Orchester auch Cello spielt. Manche von ihnen sind ehemalige Studenten oder sogar Kommilitonen, sodass man automatisch mit dem Orchester in Kontakt kommt, menschlich wie musikalisch. Ich spiele zwar auch sehr gerne Solo-Rezitals, aber die menschliche Interaktion bei Kammer- oder Orchestermusik – das ist ein wundervoller und wichtiger Bestandteil im Leben eines Musikers.
Wobei die Kommunikation in den letzten beiden Jahren mit Kontakt- oder Reisebeschränkungen sicher nicht einfach war. Sie haben eben schon die Aufnahme von „Don Quixote“ erwähnt. Wie kann man sich diese Arbeit vorstellen in Zeiten von Corona?
Queyras: Die Aufnahme selbst entstand noch vor der Corona-Zeit, war also in dieser Hinsicht eine ganz „normale“ Erfahrung. Aber es gibt generell bei Einspielungen ein ganz anderes Problem, so auch bei dieser: Das Orchester, François-Xavier, Tabea Zimmermann und ich mussten einen Termin finden, an dem wir überhaupt alle Zeit hatten. Das war im Fall von „Don Quixote“ tatsächlich ziemlich heiß: Ich kam gerade aus Japan am Vortag, Tabea hatte nur einen Tag frei. Aber gerade unter Zeitdruck ist François-Xavier ein absoluter Meister darin, nicht nur künstlerisch so präsent zu sein, dass Musikalität entstehen kann, sondern dann auch noch in diesem Moment vor Leben zu sprühen. Wenn man gerade angereist kommt, lässt er einen alles andere vergessen. So kann auch in kürzester Zeit Kommunikation, kann in kürzester Zeit Kunst entstehen.
Meist bestreitet jemand aus dem Orchester den Solopart bei „Don Quixote“. Wie vertraut war Ihnen denn das Stück überhaupt?
Queyras: Als Hörer war ich schon sehr früh fasziniert von diesem Stück, wo das Cello eine ganz besondere Rolle spielt – anders als bei einem Cellokonzert. Aber gelernt habe ich das Stück erst später und spiele es in der Tat eher selten. Deshalb bin ich auch sehr dankbar, dass das Gürzenich-Orchester mir das Stück gegönnt hat (lacht).
Haben Sie sich denn auch mal durch die schwergewichtige Literaturvorlage durchgekämpft?
Queyras: Ich habe das schon mal gelesen, als ich als Jugendlicher in New York studiert habe. Wobei ich sagen muss, dass ich es damals nicht bis zum Ende geschafft habe. Diesmal habe ich das Buch noch einmal in die Hand genommen und es tatsächlich komplett gelesen. Ich wollte einfach in diese Welt eintauchen, die Cervantes kreiert hat. Ein absolut faszinierendes Buch, vor allem wenn man bedenkt, vor wie langer Zeit es geschrieben wurde. Das Narrativ, das Cervantes da gestaltet, ist unglaublich! Außerdem – ich will es mal vorsichtig sagen: Heute leben wir in einer Zeit, in der es erhitzte Debatten über Realität und alternative Realität gibt. Und hier hat man ein sehr frühes Beispiel für jemanden, der in seinem Kopf seine eigene Wahrheit kreiert und vor sich hin spinnt. Ein Meisterwerk der Literatur, das Strauss zu einem Meisterwerk der Musik vertont hat. Das Stück ist für mich ganz klar eines der größten Werke von Strauss. Und ich bin sicher, dass ich das auch dann sagen würde, wenn ich kein Cellist wäre.
Was macht denn Strauss’ Komposition für Sie zum Meisterwerk?
Queyras: Es ist vor allem die Art, wie er mit den verschiedenen Themen von Don Quixote, Sancho Panza oder auch von Dulcinea umgeht, wie diese Themen absolut organisch auftauchen. Man hat dann tatsächlich das Gefühl, als wäre man im Körper von Don Quixote, empfindet selbst dessen Wut mit, dessen Enthusiasmus, aber auch die Sanftheit und Liebe für Dulcinea, diese nichtexistierende Kreatur. Und dann die Variation fünf, also die Waffenwache, in der Don Quixote von Dulcinea, aber auch vom Krieg träumt, das ist eine der absolut größten Passagen der Celloliteratur!
Und doch ist das Werk nur ein winzig kleiner Bestandteil Ihres Repertoires. Auf der Bühne, aber auch in Interviews brennen Sie regelrecht für die Werke, die Sie spielen bzw. beschreiben. Welche Kompositionen würden Sie denn dezidiert nicht spielen?
Queyras: Oh, eine einfache Frage, aber ich muss trotzdem nachdenken (lacht). Lassen Sie es mich so sagen: Meine Begeisterung für Musik liegt auch darin begründet, dass wir ganz verschiedene, manchmal auch einander kontrastierende Welten erkunden können. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich war zehn Jahre lang im Ensemble Intercontemporain, das ja eine sehr progressive Ausrichtung hat, was für mich eine fantastische künstlerische Erfahrung war. Einige Jahre später, Anfang der 2000er Jahre, hat mich dann das SWR-Orchester in Freiburg gebeten, ein Cellokonzert des früh verstorbenen Franzosen Haridas Greif zu spielen, der sehr neoklassisch komponiert hat. Das Stück war also völlig das Gegenteil von den Werken, die das Ensemble Intercomtemporain gespielt hat. Bei den Proben hatte ich noch meine Zweifel, aber beim Konzert selbst hatten Publikum und Interpreten dieselben Schwingungen, da lag eine ganz besondere Atmosphäre in der Luft. Ich bin kein Künstler, der Werke ablehnt und sagt, dass es nicht seinen ästhetischen Vorstellungen entspreche.
In Köln steht nun die deutsche Erstaufführung des Cellokonzerts von Vito Žuraj an, das Sie im letzten September mit dem ORF Radio-Symphonieorchester uraufgeführt haben. Wie ordnen Sie dieses Werk ein?
Queyras: Es ist ein fantastisches Stück, hoch virtuos, extrem anspruchsvoll und schlau komponiert. Man merkt, dass Vito sich sehr viel Zeit genommen hat, um sich mit dem Instrument zu beschäftigen. Und er bringt völlig neue Elemente mit rein. Zum Beispiel gibt es Stellen, bei denen ich statt des Bogens einen Bleistift mit Gumminoppen benutze, die einen ganz eigenen Klang erzeugen, wenn ich sie über die Saiten streiche. Vito und ich haben gemeinsam, dass wir eine große Begeisterung für eine Sache mitbringen können. Als er mich einmal besuchte, das war kurz nach der Einspielung von „Don Quixote“, sprachen wir kurz über dieses Werk und kamen ins Schwärmen darüber. Vito setzte sich dann sofort ans Klavier und hat verschiedenste Passagen am Klavier gespielt, er war regelrecht besessen von diesem Stück!
Der „Ritter von der traurigen Gestalt“ verfolgt uns durch’s ganze Interview…
Queyras: Was ich damit sagen möchte: Es gibt Komponisten, von denen man nichts hört, man bekommt dann ein paar Monate vor der Uraufführung die Noten, und das war’s. Vito ist da ganz anders. Der will mit seinen Interpreten arbeiten. Er war in den letzten zweieinhalb Jahren sehr oft bei mir zu Hause mit vielen Fragen im Gepäck. Überhaupt ist Vito offen für Vorschläge. Nach der Uraufführung habe ich ihm gesagt, dass er vielleicht, was die Form anbelangt, Momente finden sollte, in denen das Stück mehr zur Ruhe kommt. Daraufhin hat er tatsächlich ein paar Änderungen für die Aufführung in Köln vorgenommen.
Was machen Sie eigentlich, wenn Sie während der Vorbereitung auf eine Uraufführung merken, dass Sie einfach keinen Zugang zum Stück finden?
Queyras: Wissen Sie, ich habe mich ja sehr früh mit großer Begeisterung der Neuen Musik zugewendet. Kompositionen einzustudieren, die noch nie zuvor gespielt wurden, ist ein bisschen so, wie wenn man eine neue Sprache lernt: Am Anfang weiß ich noch nicht, was die Musik ausdrücken soll. Ich lerne gleichsam neue Laute, aus denen dann eine Aussage, eben Sprache entsteht. Nicht selten erlebe ich die Musik bis zur Generalprobe auf eine bestimmte Art und Weise, die sich dann während der Uraufführung nochmal völlig verändert – im Idealfall im positiven Sinne (lacht).
Hinweis: Aufgrund der pandemiebedingten Sitzplatzreduzierung stehen für die Konzerte mit Jean-Guihen Queyras in der Kölner Philharmonie nur wenige Karten zur Verfügung. Aus diesem Grund wird das Konzert am 18.1. (20 Uhr) zusätzlich im Livestream übertragen. Hier geht es zum Livestream.