Julia Fischers Lieblingsstück ist Schostakowitschs 7. Sinfonie „Leningrader“: Für mich ist die siebte Sinfonie ein Monument aus dem 20. Jahrhundert, das vor allem vom 2. Weltkrieg geprägt wurde. Dieses Werk erzählt ein Stück Geschichte und stellt den Faschismus musikalisch dar. Zum ersten Mal habe ich die Sinfonie in einer Aufnahme mit dem Concertgebouw-Orchester unter Mariss Jansons gehört, also nicht im Konzertsaal, sondern zu Hause. Ich finde es faszinierend, auf wie vielen Ebenen Schostakowitsch diese Sinfonie geschrieben hat. Es gibt zum einen diese sehr oberflächliche Sichtweise: Invasion, Trauer, Sieg. Aber darunter existieren noch viele weitere Schichten, so wie bei fast allen seinen Werken.
Dadurch hat er vor allem sich selbst geschützt. Vieles durfte er in der Sowjetunion nicht sagen. Die Sinfonie kann zunächst als Lob auf den Kommunismus und auf Stalin gesehen werden. Darunter verbergen sich in Wahrheit aber Kritik, Wut und Verzweiflung. Beispielsweise stammt das Motiv des ersten Satzes aus Franz Lehárs Operette „Die lustige Witwe“, Hitlers Lieblingsstück. Schostakowitsch hat es eingebaut, um die Invasion der Deutschen auf St. Petersburg musikalisch darzustellen. Ähnlich wie bei Ravels „Boléro“ erklingt erst die kleine Trommel, die allmählich lauter wird. Nach und nach spielen immer mehr Musiker mit, sprich: Die Truppen rücken weiter vor. Wenn ich diese Sinfonie höre, habe ich den Eindruck, als würde ich in die Geschichte hineingezogen werden. Und das ist meiner Meinung nach genau die Aufgabe von Musik. Sie soll die Grenze der Zeit überschreiten. Das gelingt Schostakowitsch in dieser Sinfonie unbeschreiblich gut.