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Interview Julian Nida-Rümelin

„Das ist einer Kulturnation absolut unwürdig“

Das gesellschaftliche Leben hat unnötig stark unter der deutschen Corona-Politik gelitten, meint Julian Nida-Rümelin – und erklärt, was wir aus dieser Krise lernen können.

vonGregor Burgenmeister,

In seinem aktuellen Buch „Die Realität des Risikos“ entwickelt Julian Nida-­Rümelin die These, dass Risiko kein Konstrukt sei, sondern Realität – und erklärt, was an der Bewältigung der Corona­krise falsch gelaufen ist.

Wie ist Ihr Zwischenfazit, jetzt, nach gut einem Jahr Corona-Krise? Ihr aktuelles Buch lässt sich ja durchaus als Analyse lesen mit dem Ergebnis, dass unsere Gesellschaft an Corona gescheitert ist.

Julian Nida-­Rümelin: Es hat ja keinen Sinn, sich in die Tasche zu lügen. Global gesehen muss man sagen, dass Südamerika und Europa Stand jetzt am schlechtesten weggekommen sind. In Nordamerika konnte man die grassierende Pandemie durch eine sehr viel schnellere Impfstrategie herunterdrücken, in Ostasien sind nicht nur die diktatorisch geführten, sondern auch die demokratischen Länder sehr gut mit der Pandemie umgegangen, ebenso Australien und Neuseeland. Das muss uns schon zu denken geben. Wir haben zusätzlich auch eine Ideologisierung erlebt, die nicht gutgetan hat, die aber auch nicht stattgefunden hätte, wenn man von Anfang an so transparent wie nur irgend möglich kommuniziert hätte. Diese taktischen Formen der Kommunikation sind auf keinen Fall hilfreich: Die einen wissen dann nicht genau, worum es geht, wittern aber Unrat und versteigen sich dann zu irgendwelchen Verschwörungsmythen. Und die anderen halten es geradezu für eine neue Staatsbürgerpflicht, blind alles für richtig zu halten, was da an Maßnahmen beschlossen wird. Das tut einer Demokratie nicht gut.

Sie schildern in Ihrem Buch aber auch, dass Sie anfangs entsetzt waren über die Nachlässigkeit, mit der mit dieser Pandemie umgegangen wurde.

Nida-­Rümelin: Die Ischgl-Rückkehrer kamen nicht einmal in Quarantäne, das muss man sich mal vorstellen! Selbst die WHO hat über viele Wochen gesagt: Wir beobachten das Geschehen, wir geben an, wo welche Risiken bestehen. Das ist die ganz falsche Strategie. Man hätte am Anfang noch mit überschaubarem Aufwand, wenn auch massiven Eingriffen verhindern können, dass das Virus sich überhaupt ausbreitet. Was man aber nicht getan hat. Stattdessen haben wir im Laufe der Pandemie Maßnahmen ergriffen, die nur mäßig effektiv waren und gleichzeitig einen massiven ökonomischen, kulturellen und sozialen Schaden nach sich gezogen haben. Das hätte man sich ersparen können, wenn man insbesondere diejenigen von Anfang an konsequent geschützt hätte, die ein besonderes Risiko haben, nämlich alte Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen. Wir hatten Phasen im letzten Jahr, in denen knapp zwei Drittel aller Todesfälle in Einrichtungen verzeichnet wurden, wo nur ungefähr ein Prozent der Bevölkerung lebt.

Wie kann sich denn eine Ignoranz in der Politik so lange aufrechterhalten?

Nida-­Rümelin: Wohlwollend interpretiert führt uns das zu der Frage, wie eine Demokratie mit solchen Krisen umgeht, die immer auch zu Krisen der Demokratie selbst führen können, wie wir das in der deutschen Geschichte ja dramatisch erlebt haben als Folge der Wirtschaftskrise von 1929. Ich meine damit nicht, dass das jetzt uns nochmal so droht, zumal es nicht unproblematisch ist, solche Parallelen zu ziehen. Aber trotzdem muss uns das eine Warnung sein. Wenn dreißig Prozent der Bevölkerung abdriften, dann kann das eben ausreichen, um die Demokratie kollabieren zu lassen. Natürlich ist die Komplexität der Herausforderung ein Problem: Wie soll die Politik kommunizieren, dass wir evidenzbasiert Außengastronomie öffnen können, sobald es wieder wärmer geworden ist, wenn sie gleichzeitig weiterhin vor der Gefahr der Pandemie warnen muss. Das überfordert viele, die sagen: Ja, was denn nun? Entweder oder! Wir haben ja insgesamt vielfach zu träge reagiert auf diese Herausforderungen.

Julian Nida-­Rümelin
Julian Nida-­Rümelin

War die Reaktion teilweise nicht nur träge, sondern auch kontraproduktiv?

Nida-­Rümelin: Letzten Sommer lief es ja besser als prognostiziert. Wir waren da eigentlich auf einem ganz guten Weg, aber sehr träge mit dem Testen. Lange Zeit konnten sich asymptomatisch Erkrankte gar nicht testen lassen, waren aber trotzdem infektiös. Und dann stieg gegen Ende des Sommers der ­R-Wert wieder an, und zwar sehr langsam. Damals habe ich in einer Talkshow darauf hingewiesen, dass die Gesundheitsämter nicht vorbereitet sind, dass man sich auch nicht hinreichend auf den Start des neuen Schuljahres vorbereitet hat, dass wir wieder in eine Sackgasse geraten, bei der dann ein zweiter Shutdown nötig wird. Es folgten wütende Reaktionen, aber wenige Wochen später waren wir genau an diesem Punkt angelangt. Das meine ich mit der Trägheit. Man hat eine App, die den Gesundheitsämtern nicht hilft und mit der man sich nicht einmal in Restaurants registrieren lassen kann, weil man Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes hat. Träge, extrem träge!

Was wären denn sinnvolle Maßnahmen gewesen?

Nida-­Rümelin: Erstens eine digitalisierte Kontrolle nicht nur des Infektionsgeschehens, sondern auch der Quarantäne, wie es Südkorea macht. Ich bin sehr für Datenschutz, aber hier geht es um sehr viele Menschenleben und ums Wirtschaftsgeschehen. Zweitens hätte man die am meisten Betroffenen besser schützen müssen. Kommunen hätten Bringdienste einrichten können, damit die Neunzigjährigen nicht einkaufen müssen.

Hat man sich zu einseitig auf eine virologische Sicht kapriziert?

Nida-­Rümelin: Ja, und zwar auf auf die Sicht einiger Virologen, was ich auch schon ganz am Anfang kritisiert habe. Die Pandemie hat eine ökonomische, eine kulturelle, eine soziale, eine Bildungsdimension! Kurz darauf kam der Vorschlag der Bundeskanzlerin, die Leopoldina solle doch mal Stellung nehmen. Das war schon ein Schritt in die richtige Richtung. Doch die Leopoldina hat aus ihrer Rolle als sogenannte nationale Akademie nicht das Beste gemacht. Wir haben so viel wissenschaftlichen Sachverstand an unseren Universitäten, Akademien und Instituten, aber insgesamt ein Defizit der wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland. Das muss im Nachgang aufgearbeitet und auf ein neues Fundament gestellt werden.

Eine ungute wie gefährliche Rolle spielen auch die sozialen Medien, denen Sie eine »melodramatisierende« Rolle zuschreiben.

Nida-­Rümelin: Der Ausdruck „Melodramatisierung“ kommt von Nathalie Weidenfeld (Co-Autorin von „Die Realität des Risikos“, s. Hinweis unten), die als Literaturwissenschaftlerin und Filmtheoretikerin diesbezüglich Expertin ist. Ihre These ist, dass das Melodram mit seiner typischen Unterscheidung in Gut und Böse unter Emotionalisierung von Konflikten unsere öffentlichen Diskurse stark prägt. Gerade in den sozialen Medien hat der aufregendere, extremere, eben melodramatischere Ausdruck mehr Chancen. Eine Untersuchung hat ergeben, dass in sozialen Medien falsche Behauptungen eine sechsmal stärkere Verbreitung haben als wahre. Wobei das kein Phänomen unserer Zeit ist: Auch während der Pest im Mittelalter beispielsweise gab es diese Avant-la-lettre-Melodramatisierung mit ihren teils antisemitischen Weltverschwörungsvorstellungen.

Ist durch diese Mechanismen letztendlich das große Projekt der Aufklärung in Gefahr?

Nida-­Rümelin: Durchaus. Man könnte sagen: Wenn die Aufklärung schon ins Schlingern gerät, sobald die Gesellschaft mit größeren Herausforderungen konfrontiert ist, dann muss man sich Sorgen machen. Es wird mit Sicherheit nicht die letzte Pandemie sein, möglicherweise steuern wir auch auf einen Großkonflikt der zwei Großmächte China und USA zu. Meine Hoffnung ist, dass wir aus dieser Krise lernen, die Zivilkultur des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu stärken.

Nathalie Weidenfeld
Nathalie Weidenfeld

Die Kultur gehört ja zu den am stärksten Betroffenen der Maßnahmen. Ist gerade die Hochkultur in noch stärkerem Maße geschädigt und bedroht?

Nida-­Rümelin: Es gibt mit dem sogenannten Teillockdown vor Weihnachten eine symbolische Dimension dieser Betroffenheit. Die Logik hinter diesem Lockdown, nämlich die Mobiliät der Menschen einzuschränken, finde ich in dieser kruden Art hochproblematisch, weil manche Mobilität überhaupt nicht schädlich ist, andere dagegen sehr wohl. Und dann schließt man einfacht den Bereich, der den geringsten ökonomischen Schaden anrichtet, nämlich den Freizeitbereich samt Kunst und Kultur. Das ist einer Kulturnation absolut unwürdig und hat auch eine Botschaft an die Kunst vermittelt, dass diese für den Moment eigentlich nicht so wichtig sei. Außerdem war ein Gutteil dieser Schließungen im Kulturbereich sachlich nicht begründet, etwa bei den Museen mit hohen Decken, Klimaanlagen und einem Publikum, das nicht drängelt, weil sowieso keine Touristen da sind. Man hätte sich ja mit großen Ausstellungseröffnungen ein paar Monate zurückhalten können. Gerade in dieser Zeit, in der Restaurantbesuche und andere Freizeitaktivitäten nicht möglich waren, hätte man endlich mal ein paar Stunden in den Pinakotheken der eigenen Stadt verbringen können, was man sich schon seit acht Jahren vorgenommen, aber nie getan hat (lacht).

Was ja auch alles in den Bereich der kontraproduktiven Maßnahmen gehört.

Nida-­Rümelin: Genau. Physiker haben errechnet, dass bei Schachbrettmuster und guter Klimaanlage auch Theaterveranstaltungen kein Infektionstreiber gewesen wären. Die Entscheidung, Kunst und Kultur zeitweise für verzichtbar zu erklären, basierte ja nicht auf Evidenzen und empirischen Grundlagen, sondern wurde ganz pauschal gefällt. Sollte dieses Land aus dieser Pandemie einigermaßen gut herauskommen, dann müssen Bildung, Kultur und Kunst im Mittelpunkt stehen. Neben der ökonomischen Erholung ist das genauso wichtig.

Glauben Sie, dass die aktuelle politische Klasse dafür die ausreichende Bildung besitzt?

Nida-­Rümelin: Da gibt es solche und solche. Also beim Bundespräsidenten ist dieses Thema gut aufgehoben. Hoffen wir mal, dass dies auch bei der nächsten Bundesregierung der Fall ist.

Wie sehen Sie die Perspektive publikumsseitig? Glauben Sie, dass Entwöhnung und Angst die nächsten Jahre prägen werden?

Nida-­Rümelin: Philosophen haben ja keine Kompetenz für Prognosen und Zukunftserwartungen (lacht). Aber wenn Sie mich als Bürger fragen, dann erwarte ich, dass es zu einem Boom der kulturellen Aktivitäten kommen wird. Vorhin habe ich die bedrückende Parallele zur 1929er-Wirtschaftskrise gezogen, daher möchte ich zum Schluss eine weniger bedrückende ziehen: Am Ende des Ersten Weltkriegs brach die sogenannte Spanische Grippe aus, die ja noch viel schlimmer gewütet hat mit Millionen von Toten. Dann war diese Pandemie irgendwann vorbei und es folgte eine halbwegs glückliche, wenn auch durchwachsene Zwischenphase der Weimarer Republik: die sogenannten Goldenen Zwanziger mit einer ganz intensiven Kunstaktivität. Ob deshalb auch unsere gegenwärtigen Zwanzigerjahre gleich golden werden, wird sich zeigen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir in dieser Tristesse nicht gefangen bleiben, sondern im Gegenteil sehr rasch zurückkehren in einen Alltag, der ein hohes Maß an kulturellen Aktivitäten birgt.

Buch-Tipp

Album Cover für Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren

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