Der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes und der Norwegian Soloist’s Choir haben Franz Liszts wenig bekannte und erst 1929 posthum uraufgeführte Kreuzweg-Vertonung „Via Crucis“ eingespielt. Am letzten Tag seiner USA-Tournee schaltet sich Andsnes aus dem kalifornischen Berkeley zum Telefon-Interview.
Was hat Sie dazu inspiriert, Liszts „Via Crucis“ aufzunehmen?
Leif Ove Andsnes: Ich bin schon lange von diesem Werk fasziniert. Zum ersten Mal habe ich es vor zwei Jahren in Deutschland mit dem NDR Vokalensemble und Grete Pedersen aufgeführt. Nach diesen beiden Konzerten stand für Grete und mich fest, dass wir das Stück mit ihrem Norwegian Soloist’s Choir aufnehmen wollen.
Was fasziniert Sie daran?
Andsnes: Das Stück ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich für Liszt. Seine Klaviermusik ist bekannt für Virtuosität, romantischen Überschwang und viele Noten, aber in „Via Crucis“ macht er genau das Gegenteil: Die Textur ist spärlich, es fühlt sich fast abstrakt an. Er geht an die Grenzen von Tonalität und Chromatik, manchmal weiß man nicht mehr, ob man in Dur oder in Moll ist. Das deutet schon auf das 20. Jahrhundert hin. Zugleich nahm er, der geweihte Abbé, der davon überzeugt war, dass die katholische Kirchenmusik reformiert werden müsse, zwei lutherische Choräle in das Stück auf, die so auch von Bach stammen könnten. Ein klarer Verweis auf die Tradition. Das berührt mich sehr.
Vor welchen Herausforderungen standen Sie?
Andsnes: Man hat in „Via Crucis“ ständig das Gefühl, auf Messers Schneide zu stehen. Alles hängt von den Details ab, denn obwohl es eine Komposition für Chor und Klavier ist, spielen beide zumeist getrennt voneinander. Ich kommentiere am Klavier die gesungene Erzählung. Man muss viele einzelne Noten spielen, die schnell verklingen. Ich habe daher versucht, durch kleine Nuancen in der Phrasierung und Freiheiten im Tempo längere melodische Linien zu gestalten. Außerdem habe ich mich für einen Steinway von 1917 entschieden, dessen Klang näher an Liszts Zeit herankommt und weniger kraftvoll als der eines modernen Instrument ist. In den Höhen hat er etwas Glockenartiges und Verletzliches, dadurch kommen schöne Farben in diese intime Musiksprache.
Mussten Sie für dieses Werk erst eine gewisse Reife erreichen?
Andsnes: Nein, auch junge Menschen sollten sich mit Spätwerken auseinandersetzen. „Via Crucis“ erfordert mit seinen statischen Momenten und der fast schon meditativen Schönheit jedoch viel Geduld. Wenn man jünger ist, möchte man vielleicht eher das plakative Drama erleben, wie man es aus zahlreichen anderen Stücken kennt. Die dramatischen Momente hier folgen aber nicht den typischen Sequenzen. Man muss sich also in einem anderen Gemütszustand befinden, und das ist später im Leben womöglich etwas einfacher.
Welche Idee liegt den Solostücken dieses Albums zugrunde?
Andsnes: Ich wollte bei der religiösen und spirituellen Seite von Liszt bleiben, aber auch Musik präsentieren, die uns vertrauter ist. Ich mag, wie er in den „Constellations“ mit den verschiedenen Texturen des Klaviers umgeht: Die erste und vierte sind Hymnen, die fast vom Chor gesungen werden könnten. Die zweite und fünfte muten wie ein Schubert-Lied oder ein Nocturne von Chopin an. Die sehr bekannte Nummer drei klingt wie ein Landschaftsgemälde mit impressionistischen Tupfern. Die sechste kommt dem Virtuosen am nächsten.
Sie spielen seit 35 Jahren Musik von Liszt. Wie hat sich Ihre Beziehung zum Komponisten entwickelt?
Andsnes: Als junger Pianist hatte ich seine Solowerke ziemlich oft im Programm. Die Musik ist fantastisch, um an der eigenen Technik zu feilen. Nach meinem großen Liszt-Projekt in der 2000ern habe ich mich vielen anderen Komponisten zugewandt, insofern ist es schön, jetzt zu ihm zurückzukehren. Ich entdecke aufs Neue, welche faszinierende Persönlichkeit er doch war: Vom virtuosen, flamboyanten Playboy in der Jugend hin zu einem Guru-ähnlichen Lehrer in späteren Jahren. Das spiegelt sich mit jeder Faser in seiner Musik wider, auch wenn freilich nicht alle Stücke von Qualität zeugen. Das Spektrum reicht von fast billiger Unterhaltungsmusik bis zu wirklich visionären, persönlichen, originellen und eindrucksvollen Werken.
Spielen Sie heutzutage lieber seine hochvirtuosen Stücke oder die weniger bekannten, scheinbar einfachen Werke?
Andsnes: Ich würde sagen, beides. Aber für mich ist Virtuosität kein Selbstzweck. Es gibt fantastische Stücke von Liszt, die unglaubliche Schwierigkeiten aufweisen, aber diese haben immer eine Bedeutung, etwa weil sie Farben schaffen oder Geschichten erzählen. Wenn ich diese Verbindung spüre, akzeptiere ich gern die Virtuosität.
Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs sind Sie auf Tournee in den USA. Fühlen sich angesichts der radikalen Kulturpolitik von Donald Trump Auftritte dort anders an?
Andsnes: Das ist gerade ein sehr emotionales Thema. Ich wollte hier spielen, um eine Verbindung mit dem amerikanischen Publikum einzugehen. Ich denke, viele Amerikaner sind momentan verunsichert und auch ängstlich angesichts dessen, was in ihrer Gesellschaft passiert. Natürlich kann Musik die großen Probleme nicht lösen, aber sie kann heilen und uns die Gefühle aufzeigen, die wir dringender denn je brauchen: Empathie und Mitgefühl.