Wenn Leif Ove Andsnes Ruhe braucht, zieht er sich gern in die Bergener Fjorde seiner norwegischen Heimat zurück. Dort fährt er Rad, wandert, atmet die „köstliche Bergluft“. Der Pianist gehört zu der raren Spezies derer, die auf dem Boden geblieben sind: Er brauchte weder Glamour noch Wettbewerbe, um einer der ganz Großen zu werden. Sein Anschlag ist leidenschaftlich, aber exakt, frisch interpretiert, aber ganz ohne Mätzchen. Seit drei Jahren geht er mit Musik auf Tour, für die er erst 40 werden musste – denn dieser Komponist brauche Raum und Zeit, meint Andsnes. „The Beethoven Journey“ ist eine Forschungsreise in vielerlei Hinsicht, denn den ertaubenden Komponisten macht Andsnes auch tauben Kindern raumakustisch verständlich. Ein Phänomen.
Herr Andsnes, rauf und runter spielen Sie die Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven, auf der ganzen Welt werden Sie dafür gefeiert, so wie damals mit Ihrer Rachmaninow-Serie. Spielen Sie eigentlich auch noch mal etwas anderes?
Natürlich, aber im Moment fasziniert mich dieser Komponist einfach sehr. Mit 144 Konzerten weltweit, mehreren Künstlerresidenzen und dem Auftritt bei den diesjährigen Nights of the Proms stellt sich die Frage, was danach kommt, erstmal nicht. Aber mein Ziel ist es, demnächst mehr französische Musik zu spielen.
Können Sie beschreiben, wie Sie die musikalische Seele von Beethoven erleben?
Das ist schwer! Beethoven hat so viele Facetten, so viele Gesichter, dass es nicht den einen Beethoven gibt. Aber das Entscheidende ist, glaube ich, dass in seiner Musik nichts Falsches, Gestelztes, Unaufrichtiges zu spüren ist. Er spricht die Menschen von Herz zu Herz an, er hat sehr reale Musik komponiert, mit der man intuitiv etwas anfangen kann.
Was sind seine Botschaften?
Ganz essenzielle! Wer sind wir? Woher kommen wir? Wo wollen wir hin? Beethoven hatte ja ein sehr hartes Leben, er verlor sein Gehör, aber nie seinen Idealismus und auch seinen Optimismus. Die Überzeugung, dass sich alles zum Guten wenden müsse, sein tief empfundener Humanismus – all das sind Werte, die sich in seiner Musik wieder finden. Trotz aller erduldeter Schicksalsschläge ist sie so voller Hoffnung! Beethoven hält uns die Hand, er erhebt uns. Oft habe ich das Gefühl, dass er ein Mensch war, der mit beiden Beinen fest im realen Leben stand, während Mozart die Menschen aus einer anderen, göttlichen Sphäre beobachtet hat. Mozart lebte im Himmel, Beethoven blieb mit den Füßen auf der Erde.
Sie spielen Beethoven in 22 Ländern und vielen verschiedenen Städten. Reagiert das Publikum überall gleich?
Beethovens Musik ist universell und sehr berühmt, und mindestens ein Teil des Publikums weiß das natürlich. Die Frage ist eher: Wie können wir Musiker noch überrascht sein angesichts der Tatsache, dass wir das so oft spielen? Wenn wir etwas neu entdecken, entdeckt es auch das Publikum neu. Wenn wir neue Kontraste finden, wird auch Beethoven zu sehr moderner Musik. Deren Vielgestaltigkeit und emotionale Diversität darzustellen, ist immer wieder eine Herausforderung.
Wie schafft man es denn, Beethoven immer wieder neu zu lieben?
Natürlich habe ich ein klares interpretatorisches Konzept, das ich mit dem andererseits wunderbar flexiblen Mahler Chamber Orchestra erarbeitet habe. Wir sind sozusagen verheiratet mit den Stücken, aber man darf sich das wie in einer gut funktionierenden Beziehung zu einer Frau vorstellen: Sie entdecken immer neue Seiten an ihr, und das erfrischt das Musizieren. Die Konzertsituation erleben wir zum Teil sehr spontan, man öffnet immer wieder neue Türen.
Wieso erscheint es Ihnen eigentlich notwendig, die kompletten Klavierkonzerte Beethovens aufzuführen?
Eigentlich trifft diese Attitüde der kompletten Rundumschläge gar nicht so meinen Geschmack. Aber als ich 19 war, hatte ich nachts einen Traum, und der war, sämtliche Klavierkonzerte Beethovens und Rachmaninows zu spielen, weil ich fühlte, dass es starke Musik ist. Ich träume überhaupt oft von Musik.
Aber besteht dann nicht die Gefahr einer künstlichen Repertoireeingrenzung? Wofür braucht man die 101. Aufnahme der immer gleichen Werke?
Zu Beginn der 90er Jahre habe ich auch viel ungewöhnliches Repertoire gespielt: Da begeisterte ich mich für Szymanowski, Britten oder Janáček. Für Virgin Classics habe ich damals viel Abseitiges aufgenommen. Erst im Laufe der Zeit kam ich dann zum zentralen Repertoire. Warum machen wir das? Nicht in erster Linie weil die Musik berühmt ist, sondern weil sie so stark ist. Ich gehöre auch nicht zu den Pianisten, die glauben, Beethoven bis ins Letzte verstanden zu haben. Ich glaube auch nicht, dass es irgendeinen Künstler gibt, der dazu in der Lage ist, denn dafür ist seine Musik einfach zu groß. Insofern kann jede Interpretation nur ein Stück auf einem Weg sein, den man im Zweifel ein Leben lang geht, ohne dass man wirklich ein Ziel erreicht.
Fühlen Sie denn überhaupt eine gewisse Verantwortung für die zeitgenössische Musik?
Ich habe sehr viele verschiedene Komponistenfreunde, gerade in Skandinavien. Zum Beispiel schätze ich den dänischen Komponisten Bent Sørensen sehr, und ich habe auch einige Werke von ihm gespielt. Allerdings bin ich nicht sehr interessiert an Uraufführungen, mir ist meistens die sechste Aufführung wichtiger als die erste, aus rein künstlerischen Gründen. Ich brauche diesen Pioniergeist eigentlich nicht, mir ist die Durchdringung, das Nachdenken über ein Werk dann doch deutlich wichtiger.
Mit Ihrem Beethoven-Projekt gehen Sie auf Veranlassung des Mahler Chamber Orchestra auch an Schulen und spielen dort vor allem für gehörlose Kinder. Was genau passiert da?
Man kann natürlich in die Kinder nicht hineinblicken, aber ich hoffe, sie lernen etwas und nehmen es als tolle Erfahrung mit. Sie spüren die Resonanzen am Klavier, kriechen bisweilen unter den Flügel, sitzen den Musikern auf dem Schoß, während die spielen, fühlen die Töne im Boden, erleben die Proben und Konzerte mit allen Sinnen. Das war auch für mich eine herausragende Erfahrung, die meinen Horizont vor allem dahingehend erweitert hat, wozu Musik fähig ist.
Das heißt, man muss Musik wie Beethoven selbst gar nicht unbedingt hören?
Nein, man muss sie vor allem empfinden. Das geht auch ohne Gehör. Das Faszinierende ist dann, wie sie nach solch einer intensiven Phase der musikalischen Beschäftigung zwei Stunden ruhig im Konzert sitzen und einfach nur begeistert sind. Natürlich ist das auch ein visueller Aspekt: Sie sind glücklich, dass sie gesehen werden, dass sie etwas erleben, was ihnen sonst versagt bleibt.
Wie gut sind die Kinder vorbereitet?
Sie wissen natürlich, dass Beethoven auch ertaubt ist, mit solchen Konnotationen kann man das Interesse natürlich stark anfachen. Letztlich kommen sie aber historisch unvorbereitet in die Situation hinein und beginnen dann einfach, ausprobierend die Musik im besten Sinne des Wortes zu erspüren.
Sind sie dankbar dafür?
Ihre Reaktionen sind sehr positiv, die Kinder sind sehr aufgeschlossen, wollen die Instrumente anfassen und berühren, freuen sich einfach auch daran, dass sie etwas auf den ersten Blick vielleicht Zynisches erleben dürfen. Wie kann man Gehörlose mit etwas Akustischem konfrontieren und sie damit erst recht auf ihren Mangel hinweisen? Als ich das erste Mal von der Idee hörte, fand ich sie auch etwas merkwürdig und durchaus radikal. Aber das ist wie mit allen körperlich eingeschränkten Menschen: Erst wenn man sie wie rohe Eier behandelt, diskriminiert man sie wirklich.
Was können die Kinder dabei lernen?
Es ist für sie der Eintritt in eine sehr fremde Welt. Sie sehen eine Gesellschaft, die ihnen mehrheitlich vermutlich sonst nicht zugänglich wäre. Sie werden von der Schönheit einer Sache überzeugt, die sie nicht in der Komplexität erfassen können wie wir, aber dennoch erkennen sie ihren Wert. Das ist ein Lernprozess für jeden. Auch für uns, immer wieder