Wer sich den preisgekrönten Kinofilm „Sterben“ von Matthias Glasner anschaut, hört darin auch ein höchst emotionales Orchesterwerk des Protagonisten Bernard. In Wirklichkeit stammt die Komposition aus der Feder von Lorenz Dangel, der für seine Soundtracks bereits zwei Mal den Deutschen Filmpreis erhielt. Der gebürtige Würzburger arbeitet heute in Berlin und lud zum Interview in sein Studio im Stadtteil Moabit.
Herr Dangel, Ihr Weg zum erfolgreichen Komponisten, vom Studienbeginn in Berlin bis zum Deutschen Filmpreis 2012 wirkt auf den ersten Blick sehr geradlinig. War er das?
Lorenz Dangel: Ich selbst empfinde das nicht so. Am Ende meiner Schulzeit habe ich noch überlegt, ob ich nicht besser Medizin studiere. Seit meinem vierzehnten Lebensjahr war ich in Würzburg ehrenamtlich im Rettungsdienst tätig, das war ein großes Interesse abseits der Musik.
Nun kommen Sie aus einer musikalischen Familie.
Dangel: Richtig, meine Schwester ist Geigenbauerin, mein Bruder Solo-Cellist im Kammerorchester Basel und meine Eltern sind Musikwissenschaftler. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich als Kind auf dem Sofa lag und in unserem Wohnzimmer Schubert-Streichquartette gespielt wurden. Ich selbst studierte zuerst Kontrabass, wollte auch dirigieren, eine Tonmeisterausbildung machen. Irgendwann hat mich dann an der Musikhochschule Hanns-Eisler der Professor und Komponist Hans-Peter Jannoch zur Seite genommen und mich gefragt: Willst du wirklich Bassist werden? Das war ein Impuls, ich fing an, bei ihm Komposition zu studieren, lernte zweifachen Kontrapunkt, wir analysierten Schönbergs Klavierstücke und so weiter. Jannoch wurde mein wichtigster Mentor.
Anschließend studierten Sie Filmmusik in München.
Dangel: Diese Station war sicherlich wichtig für den Findungsprozess, aber kompositorisch habe ich dort wenig gelernt. In der Hinsicht war meine Zeit in London prägender, wo ich klassische Komposition am Royal College studiert habe, bei David Sawer und Julian Anderson. Das Niveau an diesem College ist so unglaublich hoch, das habe ich sehr genossen.
Es fällt auf, dass Sie eine Vielzahl von Werken für ein kleines Festival in der Schweiz komponiert haben. Was hat es mit dem „Origen Festival“ auf sich?
Dangel: Das findet jedes Jahr in dem kleinen Bergdorf Riom statt. Aus einer Art positivem Patriotismus für Graubünden haben dort der Theaterintendant Giovanni Netzer und der Dirigent Clau Scherrer ein Festival ins Leben gerufen, wo ganz verschiedene Genres in hoher Qualität geboten werden, Chorwerke, Theaterstücke, Tanz… Ich wurde dort schon während meines Studiums Composer in Residence und komponierte mehrere Ballettmusiken, eine davon wurde auf dem Marmorera-Staudamm aufgeführt, es gab von mir eine Klanginstallation auf einem Zug der Rhätischen Bahn, ich habe eine ganze Oper auf Rätoromanisch geschrieben…
… eine Sprache, die von weniger als ein Prozent der Schweizer gesprochen wird.
Dangel: Aber eine tolle Sprache, unglaublich musikalisch, eine Mischung aus Italienisch und Französisch. Portugiesen verstehen sie auch sehr gut, weil es da eine Verwandtschaft gibt. Die Community kämpft sehr für ihren Erhalt.
Und gleichzeitig haben Sie sich mit dem Thema Filmmusik beschäftigt?
Dangel: Ja, das lief eigentlich immer parallel. Mit meinem ersten Soundtrack, für Benjamin Heisenbergs „Schläfer“, wurde ich 2005 relativ schnell in diese Welt katapultiert: Der Film wurde beim Festival in Cannes gezeigt, das war für mich ein sehr luxuriöser Einstieg.
Gab es denn mal die Überlegung, sich nur der Konzertmusik oder nur der Filmmusik zu widmen?
Dangel: Nein. Im Gegenteil, ich bin der Meinung, dass sich diese Bereiche gegenseitig beeinflussen und befruchten. Ich bin gerne auf verschiedenen Feldern unterwegs und stilistisch relativ breit aufgestellt, was ich als Reichtum empfinde. Wobei das nicht immer einfach ist, weil es in der Musikszene oft das Bedürfnis gibt, Komponisten in ein bestimmtes Fach einzuordnen. Dem widersetze ich mich mit einem gewissen sportlichen Ehrgeiz. Wenn man, wie ich, mit verschiedenen musikalischen Plattformen jongliert, stellt sich natürlich auch die Frage, was eigentlich die eigene kompositorische Identität ist.
Wie beantworten Sie diese Frage?
Dangel: Für mich ist ein wichtiger Teil dieser Identität mein musikalischer Instinkt. Ich bin gut darin, auf Dinge einzugehen, etwa auf Gegebenheiten, den Kontext eines Projekts, auf bestimmte Erwartungen. Im Moment arbeite ich an einem Werk für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, ein Stück für Orchester und vier Blaskapellen, die Idee stammt von Simon Rattle. Ich habe viel Freude daran, mich auf dieses ungewöhnliche Setting einzulassen, mir Dinge für die Laien-Ensembles auszudenken. Das fordert mich einerseits heraus, andererseits hilft mir der breite stilistische Baukasten, über den ich verfüge.
Bei welchem Ihrer Werke mussten Sie denn keinerlei Erwartungen erfüllen?
Dangel: Es gibt zum Beispiel ein Streichtrio von mir, wo ich sagen würde, das bin kompositorisch ich. Das ist nicht Avantgarde, aber schon im Bereich der zeitgenössischen Musik angesiedelt.
Auf Ihrem Soundtrack zu Benjamin Heisenbergs Film „Der Räuber“ hört man eine Arie, die an Renaissance erinnert. Wenn Sie wollen, können Sie also auch reinen Barock imitieren?
Dangel: Ja, wobei mich allerdings das reine Imitat nicht interessiert. In meinem Ballett „Schneesturm“ für die Bayerische Staatsoper habe ich für einen der Erzählstränge in der Geschichte auch Barock-Elemente verwendet, die werden dann aber aufgebrochen und zersetzt. Ich mag es einfach, mit Stilistiken zu spielen, über Grenzen zu gehen, zu changieren.
Zu wie viel Prozent sehen Sie sich als Handwerker, zu wie viel als Künstler?
Dangel: Das ist schwer zu sagen und abhängig vom jeweiligen Projekt. Generell geht es in der Filmmusik natürlich viel um Handwerk, doch inzwischen werde ich zum Glück oft für Filme engagiert, bei denen ich sehr künstlerisch arbeiten kann. Das hat viel mit der musikalischen Kompetenz eines Regisseurs zu tun, der dann bestimmte Dinge zulässt.
Wie war das bei Ihrer jüngsten Arbeit, zum deutschen Kinofilm „Sterben“?
Dangel: Das ist das perfekte Beispiel, denn der Regisseur Matthias Glasner hat mir sehr viele Freiheiten gelassen. Natürlich haben wir viel diskutiert über unterschiedliche Ansätze und Musikstile, verschiedene Ideen ausgetauscht. Die Rolle der Musik ist in diesem Film ja eine ganz besondere. Es gibt keinen gewöhnlichen Score…
… sondern Teile der Handlung kreisen um ein Werk, das von der Filmfigur Bernard komponiert wird.
Dangel: Genau, ich habe sozusagen als Ghostwriter für diesen Bernard fungiert, einen Komponisten, der strauchelt, Sinnkrisen hat und sich seiner Umwelt am besten über Musik mitteilen kann. Bei der Komposition ging es mir darum, seinen Zustand und seine Gefühlswelt zu beschreiben. Das war eine sehr reizvolle Aufgabe, den Prozess zu gestalten, wie er dieses Stück schreibt, und die ganze Theatralik seiner Figur in der Musik widerzuspiegeln.
Sie haben auch fürs Fernsehen gearbeitet, wo in Spielfilmen der Musikanteil häufig bei siebzig bis achtzig Prozent liegt.
Dangel: Es gibt auch TV-Filme, die mit weniger auskommen, aber ja, in der Tendenz kommt das wohl in etwa hin.
Warum wird im Fernsehen so viel mit Musik untermalt, während bei einem Kinofilm wie „Sterben“ nur in sehr wenigen Szenen Musik zu hören ist?
Dangel: Ein TV-Film hat nicht die gleiche Möglichkeit, über den kleinen Bildschirm so eine Präsenz zu erreichen, wie von der Leinwand, er wird schlicht anders wahrgenommen als eine Vorführung im dunklen Kinosaal mit Dolby-Surround-Lautsprechern. Daher geht es im Fernsehen häufig darum, den Zuschauer, der ja weiterzappen könnte, dranzuhalten – zumindest ist das ein Argument, das man häufig von den Redaktionen der Sender hört. Man soll mit der Musik eine Spannung schaffen, um den Aufmerksamkeitspegel des Zuschauers hochzuhalten. Deshalb wird dort in der Regel die Musik deutlich stärker dramaturgisch eingesetzt, um bestimmte Handlungsverläufe zu unterstützen. Es gibt auch großartige TV-Filme, die ganz wenig Musik haben. Aber bei Filmen à la Rosamunde Pilcher werden Gefahr, Liebe oder Spannung nahezu durchgängig unterlegt, damit der Film über den Bildschirm die Leute erreicht.
Stumpft aber so eine Dauerberieselung nicht auch ab?
Dangel: Klar. Ich werbe im Entstehungsprozess eines Films oft dafür, wenig Musik einzusetzen, eben weil ich die Gefahr sehe, dass sie sich sonst in ihrem Effekt einfach abnutzt – egal wie toll sie komponiert ist. Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele, etwa „Star Wars“, wo permanent Musik erklingt, aber das ist eben auch ein ganz anderes Genre. Ich diskutiere jedenfalls sehr oft mit Regisseuren und hinterfrage bestimmte Musikeinsätze. Weil ich glaube, dass durch gut überlegte Einsätze von Musik, dort wo sie einem wirklich wichtig ist, ein Film lebendiger wird und eine ganz andere Struktur bekommt, als wenn man ihn ständig mit einem Score begleitet.
Sie haben mit „Tides“ einen Science-Fiction-Film vertont, der vom Blockbuster-Regisseur Roland Emmerich produziert wurde. Gibt es inzwischen auch Anfragen aus Hollywood?
Dangel: Ja, es gab Anfragen für zwei Filme, die ich aber beide nicht machen konnte, aus Zeitgründen. Viele meiner Kollegen haben nur den Kopf geschüttelt, weil sie meinten: Dafür lässt du alles stehen und liegen! Das habe ich nicht gemacht, weil ich mich in Projekten befand, die ich nicht abbrechen wollte. Ich bin mit dieser Entscheidung auch nach wie vor fein. Hollywood ist ein völlig anderer Apparat, man arbeitet in riesigen Teams, die Kommunikation ist eine andere, es gibt unglaublichen Zeitdruck. Ich habe schon einen Einblick in diese Welt bekommen, weil ich früher als Orchestrator für größere internationale Projekte gearbeitet habe. Als Komponist sehe ich mich da im Moment nicht. Wenn in den USA, dann würde ich viel lieber für einen New Yorker Arthouse-Film Musik schreiben.
Stichwort Orchester: Mit Klangdatenbanken lässt sich heutzutage schon relativ gut ein Orchestersound am Computer generieren. Wird man in Zukunft immer seltener echte Streicher im Film hören?
Dangel: Ja, da wird in Zukunft sicherlich vieles ersetzt werden. Im Luxus-Segment jedoch wird es Filmorchester immer geben, sprich bei Projekten mit gutem Budget und Regisseuren, die bestimmte Überzeugungen und Ansprüche haben.
„Echte Musiker schwingen sensibler als Elektronik. Wenn zwei Menschen miteinander kommunizieren, kann man feststellen, dass bei Sympathie die Härchen tanzen, dass sich die Zellen im Bereich von Millisekunden synchronisieren. Da laufen die eigentlichen Schwingungen von Musik ab, wo aber jeder Computer versagt“: So formulierte es einmal Ihr früherer Lehrer, der Filmkomponist Enjott Schneider.
Dangel: Ich würde das anders formulieren, aber ich stimme ihm zu. Natürlich ist es etwas Anderes, wenn fünfzig Musiker in einem Raum zusammen Musik machen, als wenn ich fünfzigmal eine Spur vom Computer generieren lasse, ohne dass das eine Instrument weiß, was das andere neben ihm macht. Es kommt aber auch darauf an, wofür man die Musiksoftware einsetzt. Streicherflächen lassen sich heute schon sehr einfach programmieren. Ich persönlich benutze Samples beispielsweise zu Demonstrationszwecken in der Kommunikation mit dem Regisseur. Wenn ich diese Musiken gelegentlich Musikerfreunden von mir vorspiele, hören die den Unterschied zu einem echten Ensemble nicht mehr, was mich erschreckt. Andererseits gibt es Bereiche, wo das Synthetische nicht funktioniert. Das ist jetzt eine neue Herausforderung, sich in Klangbereichen aufzuhalten, wo der Computer nicht hinkommt.
Können Sie genauer erklären, welche Bereiche das sind?
Dangel: Hans Zimmer hat bei der Arbeit am Film „Inception“ eine große Besetzung aus tiefem Blech spielen lassen. Der Klang, der dabei entstand, ist inzwischen legendär – synthetisch aber hätte man diese pure physisch-physikalische Präsenz des Ensembles nicht hinbekommen. Auch experimentelle Avantgarde können Sie nicht mit dem Computer einspielen, oder Streichquartette. Zeigen Sie mir die Software, die ein Schostakowitsch-Quartett so programmieren kann, dass man den Unterschied zum Menschen nicht hört. Ausgeschlossen!