Eigentlich gebe er nur sehr ungern Interviews, hieß es warnend im Vorfeld von Seiten des Südwestrundfunks. Aber vielleicht liegt es am schönen Wetter, an der freundlichen Bedienung im Café oder an der Tatsache, dass er an unserem Tisch im Freien rauchen kann: Marcus Creed jedenfalls wirkt sehr entspannt an diesem Vormittag in Stuttgart. Freundlich, höflich, ein wenig distanziert zunächst, man könnte sagen: britisch. Auch wenn das Verhältnis zu seiner Heimat nach dem Brexit nicht ganz unproblematisch zu sein scheint …
Herr Creed, Sie sind ja gebürtiger Engländer…
Gerade jetzt bin ich froh, dass ich hier bin …
… und die Engländer besitzen ja eine große Chortradition. Wie sind Sie selbst denn zum Singen gekommen?
Ich hatte eine gute Knabenstimme. In der Grundschule wurde schon viel gesungen, meine Großeltern waren stark in der Kirche engagiert, wo ich seit meinem sechsten Lebensjahr im Chor gesungen hatte. Später habe ich dann auch im Chor an der Universität gesungen.
Was bedeutet Gesang für Sie?
Zunächst finde ich es sehr spannend, dass Menschen ohne Instrumente Musik machen können. Das Singen ist für mich auch eine sehr persönliche Angelegenheit: Man offenbart sich, wenn man singt, kann sich nicht verstecken – man ist in gewissem Sinne schutzlos.
Als Sie 2002 das Angebot bekamen, Chefdirigent des SWR Vokalensembles zu werden: War das eine leichte Entscheidung?
Das war keine leichte Entscheidung! Ich hatte gerade als Leiter des RIAS-Kammerchors in Berlin aufgehört und eine Professur in Köln angetreten und eigentlich nicht die Absicht, wieder eine Stelle als Chorleiter zu übernehmen. Aber dann habe ich ein Projekt als Gastdirigent mit dem Vokalensemble gemacht – und mir wurde klar, dass das eine großartige Gelegenheit ist, mit einem Chor, der sich in toller Verfassung befindet, interessante Sachen machen zu können. Nach ein paar Tagen des Überlegens habe ich dann zugesagt.
Wie war damals das SWR Vokalensemble im Vergleich zum RIAS-Kammerchor?
Als ich den RIAS-Kammerchor übernommen hatte, war er noch im Aufbaustadium. Nun hat die Chormusik in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren riesige Fortschritte gemacht. Was wir heute für selbstverständlich halten, war es damals noch nicht. Als ich dann wegging, waren sie schon sehr gut. Aber die Stuttgarter waren und sind ohne Zweifel der schnellste Chor in Deutschland.
Der Schnellste? Von der Auffassungsgabe?
Genau, auch was das Vom-Blatt-Singen anbelangt. Und der Chor war immer sehr selbständig – nach dem Motto: Sie dirigieren und wir singen! …
Nun gilt das SWR Vokalensemble als einer der weltbesten Chöre. Gab es trotzdem schon einmal Situationen, wo Sie an seine Grenzen gekommen sind?
Vor kurzem bekamen wir die Partitur eines neuen Werks, bei dem ich zum ersten Mal in meiner Laufbahn nach ein paar Proben absagen musste. Es ist immer etwas kompliziert mit Uraufführungen, man muss die Proben mindestens ein Jahr im Voraus planen. Jedenfalls kamen die Noten für das Stück sehr spät, und wir hatten noch zwei weitere Uraufführungen in dem Programm: Das hätten wir in der zur Verfügung stehenden Zeit einfach nicht geschafft. Es gibt ja auch einen gewissen Stolz innerhalb des Chores: Wir wollen die Sachen gut machen. Denn nur wenn wir die Werke gut machen, kann man sich eine Meinung darüber bilden.
Gibt es Komponisten, die über die stimmlichen Möglichkeiten eines Chors nicht gut genug Bescheid wissen?
Sicher. Wir bitten alle Komponisten, dass sie zu den ersten Proben kommen, damit sie die Möglichkeit haben, noch Dinge zu ändern, falls wir sehen, dass etwas sängerisch nicht geht. Denn nicht alle Komponisten sind es gewohnt, für Chor zu schreiben. Viele wissen nicht, was ein Chor kann und was er nicht kann. Und wenn wir das nicht schaffen können, dann können es die anderen Chöre auch nicht. Das ist einfach so.
Besteht bei Neuer Musik die Gefahr, dass sie sich durch die immer höheren technischen Ansprüche weiter ins Abseits manövriert? Müsste es nicht stattdessen mehr zeitgenössische Werke geben, die auch von guten Laienchören bewältigt werden können?
Die gibt es schon. Das Niveau der Chöre, auch das der Laien- und semiprofessionellen Chöre, ist insgesamt heute viel höher als früher. Wir haben beim Vokalensemble als Festangestellte natürlich den Vorteil, dass wir uns für besondere Aufgaben mehr Zeit nehmen können.
Aber gibt es nicht ein Problem, was die Verbreitung Neuer Musik anbelangt, wenn die technischen Ansprüche so hoch sind, dass sie an Spezialensembles delegiert werden müssen?
Ja, das stimmt. Wir sagen oft: Wir haben dieses Stück jetzt aufgeführt – und es wird wahrscheinlich nie mehr aufgeführt, außer wenn wir das übernehmen.
Wenn Sie ihre Lieblingsstücke benennen sollten – wofür schlägt Ihr Herz am meisten?
Ich hatte das Glück, in diesem Jahr wieder einmal Bachs h-Moll-Messe aufzuführen: Für mich als Dirigent ist das das Höchste. Das gilt auch für die Matthäuspassion, wobei man da als Dirigent nicht so viel zu tun hat: Die Hälfte des Stücks kann man einfach zuhören …
Nun ist der Anspruch eines Werkes das eine – doch gibt es auf der anderen Seite auch genügend Nachwuchs für Profichöre und eine adäquate Ausbildung an den Musikhochschulen?
Als ich 1987 in Berlin anfing, wurde immer bemängelt, dass es keinen Nachwuchs gäbe. Aber dann kamen doch immer wieder gute Sänger, auch wenn eine Stelle vielleicht mal ein oder zwei Jahre unbesetzt bleiben musste. Fast alle, die Gesang studieren – und das ist ja ihr gutes Recht – wollen zunächst mal Weltstar werden und nicht unbedingt in einem Chor singen. Für einen Chor braucht man aber eine ganz andere Art des Singens, und damit sind die Professoren nicht immer einverstanden. Ich habe jetzt mein Abschlusskonzert als Professor in Köln mit meinem Kammerchor gegeben: Von den fünfzig Chorsängern waren gerade mal drei Hauptfachstudenten im Fach Gesang!
Weil im Chor weniger das individuelle Singen erwartet wird und man eine eher neutrale Stimmfarbe braucht?
Genau. Ein Pianissimo wie im Chorsatz würde man solo nie so singen. Auch ohne Vibrato zu singen sind die meisten nicht gewohnt.
Gibt es noch was, was Sie mit dem Chor gerne machen würden und wozu Sie bis jetzt nicht gekommen sind?
Nein. Ich werde oft gefragt: Was wollen Sie noch gerne machen? Aber ich lasse mich immer wieder gerne überraschen, das ist das Spannende! Man kann sich dann nicht zurücklehnen, ist immer gefordert. Übrigens auch von den Sängern, das sind sehr intelligente Leute. Es gibt ja das Bild von den blöden Sängern, aber es ist genau das Gegenteil. Da muss man als Dirigent immer auf der Hut sein.