Startseite » Interviews » „Menschen sehnen sich nach Musik, die man nachfühlen und verstehen kann“

Interview Martin Stadtfeld

„Menschen sehnen sich nach Musik, die man nachfühlen und verstehen kann“

Ein überraschendes Album mit dem vielsagenden Titel „Songbook“ ist der Anlass für ein Gespräch mit Martin Stadtfeld. Der Pianist erzählt von den Anfängen seiner Karriere als Bach-Interpret, Wegmarken seines Lebens und seiner komplizierten Beziehung zur Popmusik. 

vonSusanne Bánhidai,

Vielen Dank für Ihre Zeit. Gehören Sie zu denen, die gerade viel oder wenig Zeit haben?

Martin Stadtfeld: Ich habe immer etwas zu tun. Gerade habe ich mit Ralph Caspers zusammen einen Stream für Kinder mit dem Konzerthaus Dortmund realisiert. Vierzig Schulen hatten sich angemeldet, und uns wurden während des Live-Streams mehrere hundert Fragen gesendet. Der Bedarf an solchen Angeboten ist sehr groß. Und dann arrangiere ich zu Hause noch Volkslieder, die mir aus der Kindheit eine schöne Erinnerung sind. 

Sie blicken zurück auf ein 20-jähriges Künstlerleben als Solist mit vielen Aufnahmen, Konzerten und Musikvermittlungs-Projekten. Gibt es etwas, das Sie rückblickend überrascht hat, oder lief alles nach Plan?

Stadtfeld: Man muss ja ein bisschen etwas erlebt haben, um diese Frage beantworten zu können. Der Philosoph Søren Kierkegaard hat das sehr gut ausgedrückt, indem er sagte: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Wenn ich jetzt zurückblicke auf den Beginn meiner beruflichen Laufbahn, mit dem Hype um die Goldberg-Variationen, dann schmunzle ich schon manchmal. Damals war ich fast noch ein Kind, dem einfach viel widerfahren ist. Es gab Situationen, denen ich mich nicht gewachsen gefühlt habe. Es hatte mitunter etwas Fremdbestimmtes, mit einem tollen Dirigenten ein Klavierkonzert zu spielen, so wunderbar diese Begegnungen und Konzerte auch waren. Jetzt reflektiere ich viel mehr. Dadurch bin freier in dem, was ich tue. Seit ein paar Jahren bin ich bei mir angekommen. 

Was hat dazu beigetragen, dass Sie dieses Stadium erreicht haben?

Stadtfeld: Es ist eine Frage des Lebenszyklus. Knackpunkte in meinem Gefühlsleben waren die Geburt meines Sohnes und die bewusste Auseinandersetzung mit der Klassik-Branche, die ich zunehmend als etwas erstarrt empfand. Spielt man bestimmte Stücke, wird auch erwartet, dass man sie auf eine gewisse Art interpretiert. Wenn man im Rahmen bleibt, kann man ein wenig experimentieren, aber es hat doch etwas Abgezirkeltes. Ich war frustriert. Dann habe ich das Komponieren für mich wiederentdeckt. Das war wie ein Befreiungsschlag. Man kann beim Komponieren alles entscheiden. Diese Gestaltungsfreiheit hat mir dann bei den Interpretationen von Musikstücken der großen Meister die Gelassenheit zurückgegeben. 

Ihr neues Album „Songbook“ ist mehr als eine normale Studio-Produktion. Sie haben Ihre Herzensmusik in neue Arrangements gesetzt und zehn eigene Stücke geschrieben. Wie kam es zu diesem Projekt, das sie als Wegmarke bezeichnen?

Stadtfeld: Als mein Sohn auf die Welt kam, hat das eine Reflexion über meine Kindheit ausgelöst. Was hat mich geprägt? Welche Menschen haben mir – auch musikalisch – etwas mitgegeben? Warum löst Musik so viel in mir aus? Musik ist für mich mehr als nur eine Erwerbsquelle. Ich hatte das Bedürfnis, zu einer Einfachheit zurückzukehren, aus der Bach und Händel ja Unglaubliches geschaffen haben. So begann ich mit den eigenen kleinen Kompositionen. Auch bei den Bearbeitungen habe ich auf Vereinfachung gesetzt und mir meist nur ganz bestimmte Stellen des Musikstückes herausgegriffen. Es sind ja oft wenige Takte von Mozart, die ganz schlicht sind und uns immer wieder zutiefst berühren. Manches, was zu verkopft ist, steht diesem Zugang zur Seele eher im Weg.  

Die Bearbeitungen auf dem Album sind allerdings keine Reduktionen, wie man sie oft in der zeitgenössischen Musik findet. Es steckt sehr viel klangliche Sinnlichkeit in ihnen, die Melodie steht im Vordergrund.

Stadtfeld: Es gibt vielleicht zwei Arten der Vereinfachung. Das eine ist die Reduktion auf das Gerüst. Das kann sehr faszinierend, aber auch schmerzhaft sein, wenn die „nackte“ Musik essenzielle Fragen aufwirft. Mein Ansatz ist in der Tat ein anderer. Ich will eigentlich eher das Gegenteil erreichen, nämlich mit der Schönheit der Musik und der Harmonie trösten. Trost ist ein Hauptaspekt von Musik für mich. Man kann sich in ihr geborgen fühlen. Musik von Georg Friedrich Händel ist so ein Mantel, den ich als Schutz vor den Zumutungen des Menschseins empfinde. 

Meinen Sie Trost auch im spirituellen Sinne?

Stadtfeld: Ich meine eher, dass Musik etwas Göttliches in sich trägt, aber nicht unbedingt im religiösen Sinne. Das Unbegreifliche des Göttlichen kann uns Angst machen – und es kann uns beruhigen. Beim Anblick des Sternenhimmels kann ich mich ganz klein fühlen. Schließlich kann man sich als Mensch so etwas wie Unendlichkeit noch nicht mal vorstellen. Oder ich akzeptiere diese Erhabenheit und sie hilft mir und tröstet, weil ich mich als Teil von etwas Größerem fühlen darf. Wenn man sich über Kleinigkeiten ärgert, kann Musik helfen, das Gespür für das Göttliche zu transportieren. Das rückt irdische Dinge gerade. Musik kann uns vor Selbstsucht und Exzentrik heilen. 

Martin Stadtfeld
Martin Stadtfeld

Und wieder hört man auf Ihrem Album viel Musik von Johann Sebastian Bach …

Stadtfeld: … den ich auch mal als Gott bezeichnet habe. In Wirklichkeit ist er mein großer Wegbegleiter und Schutzpatron. Er war natürlich auch ein normaler Mensch mit charakterlichen Schwächen, aber sein Werk überragt die Person. Es hat etwas Absolutes. Darin bündelt sich das ganze europäische Geistesleben. Aus diesem Brunnen schöpfen alle: die Genies wie Schumann oder Beethoven, aber auch meine Wenigkeit. 

Zu diesem Album gibt es ein Notenbuch, ein echtes Songbook, damit man Ihre Kompositionen zu Hause nachspielen kann.

Stadtfeld: Eigentlich habe ich diese Stücke genau dafür komponiert. Mit großer Freude habe ich sie auch eingespielt. Aber der Ausgangspunkt war in diesem Falle tatsächlich das bei Schott erscheinende Notenbüchlein, das dazu einladen soll, den Klavierdeckel wieder hochzuklappen. 

Der Titel „Songbook“, die Länge Ihrer Eigenkompositionen und die englischen Titel der Stücke wecken Assoziationen an die Welt der Popmusik. Haben Sie sich mit der einst so verabscheuten Musikrichtung versöhnt oder soll es eine Alternative dazu sein?

Stadtfeld: Meine Meinung über die Popmusik fällt nicht mehr so hart aus. Das Gedudel, das als solches produziert wird, geht mir auf die Nerven. Aber ich bin viel toleranter geworden. 

Es gibt doch gute Popmusik, oder?

Stadtfeld: Es gibt grandiose Ausnahmen. Ich finde die Musik von ABBA gut. Das ist vielleicht peinlich oder ein altersbedingtes Klischee, aber ich stehe dazu. Sie ist einzigartig. Auch wenn es doch nur alte Harmoniewendungen sind, werden die so geschickt eingesetzt, dass man nach ein paar Takten weiß: Das können nur die sein. Unabhängig vom Klanggewand. Letztlich ist Popmusik allerdings auch nur eine Spielart von klassischer Musik. Meine Kompositionen sollen aber kein Pop sein, obwohl ich eine Verbindung herstellen könnte. 

Jetzt sind wir gespannt…

Stadtfeld: Bei aller Wertschätzung für die klassische Avantgarde und auch persönlicher Bewunderung für einige Vertreter der zeitgenössischen Musik finde ich es schade, dass die Tür für viele Zuhörer zugegangen ist. Menschen sehnen sich nach Musik, die man nachfühlen und verstehen kann, die zu einer Entdeckungsreise einlädt. Wenn man alle Elemente aufgibt, die diese Nachfühlbarkeit gewährleisten, wird das schwer. Dann übernehmen andere Musikgenres diese Funktion und locken die Menschen an, sich mit ihren musikalischen Gefühlen wiederzufinden. Auch die sogenannte „Neo-Klassik“ nutzt diese bekannten Harmonien, ist dabei leider oft wenig raffiniert. Ein Zeichen von großer Musik ist aber, dass sie für jeden zugänglich ist und man sich ein Leben lang damit beschäftigen kann. 

Gibt es etwas, worauf Sie sich in Zukunft freuen oder das Sie planen, auch wenn Sie es im Sinne Kierkegaards erst in den nächsten Interviews verstehen werden?

Stadtfeld: Ich bin jetzt vierzig, ein herrliches Alter! Es gibt überhaupt keinen Grund mehr, irgendetwas aufzuschieben. Früher dachte ich immer: Das machst du irgendwann. Als ich vor einiger Zeit mit der Hamburger Camerata zwei Konzerte vom Klavier aus geleitet habe, war ich danach beseelt und werde bestimmt auch die nächsten Dirigiergelegenheiten nutzen. Ich habe keine Angst mehr zu scheitern. Das ist keine Hybris, sondern ein neuer Grad an Selbstbewusstsein. Wenn ich scheitere, kann ich mir das eingestehen. Es ist nichts Schlimmes. Schlimm ist es nur, es nicht zu versuchen, gerade wenn man Lust darauf hat und weiß, dass man es eigentlich kann. Auch das Komponieren hatte ich zuerst aufgeschoben, auch aus Angst, dafür kritisiert zu werden. Das ist jetzt vorbei!

CD-Tipp

Album Cover für Piano Songbook

Piano Songbook

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Klassik in Ihrer Stadt

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!