Dass er wegen eines Bandscheibenvorfalls kürzlich Konzerte absagen musste, merkt man Matthias Kirschnereit nicht an. Im historischen Ambiente der Krameramtsstuben bestellt er eine süße Hamburger Spezialität – Rote Grütze – und wirkt bestens gelaunt. In dem kleinen Speisesaal liegt das Thema Kammermusik quasi in der Luft …
Neben Ihren Auftritten als Solo- und Konzertpianist sind Sie stark als Kammermusiker engagiert. Wie wichtig ist Ihnen dieser Bereich?
Matthias Kirschnereit: Die Kammermusik ist eine sehr intime, intelligente, emotionale Konversation, bei der der persönliche Austausch mit den Spielpartnern im Vordergrund steht. Für gewöhnlich sind wir Pianisten ja einsame Wölfe. Das Klavier ist das Instrument, das am meisten Übung verlangt. Da ist die Kammermusik zwar keine Entspannungs-, aber eine Inspirationskur. Manchmal führt sie einen sogar zu der Frage zurück, warum man ganz generell Musik macht.
Und warum macht man Musik?
Kirschnereit: Zunächst zur eigenen Erbauung. Im Idealfall aber aus einer inneren Notwendigkeit heraus. Ich finde, dass viele junge Pianisten sensationell spielen und das Niveau heute sehr viel höher ist als zu meiner eigenen Studienzeit. Aber die allerwenigsten hinterlassen bei mir einen bleibenden Eindruck. Die einen spielen „politisch korrekt“, solide, schön, nett und nicht zu hart. Die anderen versuchen, mit willkürlichen, exzentrischen Spielweisen auf sich aufmerksam machen. Dass jemand aber wirklich kreativ ist und aus einer inneren Notwendigkeit heraus spielt, wie ich das etwa bei Daniil Trifonov empfinde, scheint mir die absolute Ausnahme zu sein.
Woran erkennt man einen guten Pianisten?
Kirschnereit: Von größter Wichtigkeit ist der Charakter, die richtige Mischung aus Selbstbewusstsein, Demut, Lernfähigkeit und Selbstkritik, so dass man sich auch kontinuierlich weiterentwickeln kann. Wir müssen aber auch gute Schauspieler sein, damit wir uns in die jeweiligen Rollen, Emotionen und psychologischen Situationen hineinversetzen können, die da sozusagen tiefgefroren vor sich hin schlummern und von mir als Interpreten wieder zum Leben erweckt werden. Nicht indem ich sie auftaue wie eine Tiefkühlpizza, sondern indem ich im Idealfall eins werde mit dem Komponisten. Das ist ein ganz wunderbarer Prozess, der Kultur stiftet und lebensbereichernd ist.
Der aber von vielen, insbesondere jüngeren Menschen nicht verstanden und geschätzt wird.
Kirschnereit: Dabei ist klassische Musik alles andere als uncool. Ich kann solche Aussagen zwar verstehen, ich war ja auch mal jung und ein großer Fan von Deep Purple. Heute höre ich mit meinen Kindern viel Deutsch-Pop und schaue mir Casting-Shows wie „The Voice Kids“ an. Ich bin da also ziemlich am Puls der Zeit, was ich spannend finde. Dagegen erfordert klassische Musik eine gewisse Geduld und Hingabe, dass man selbst zur Ruhe kommt und nicht ständig mit dem Smartphone beschäftigt ist. Wenn ich mir überlege, wie Schuberts letzte Sonate oder Mahlers „Kindertotenlieder” entstanden sind, denke ich, wir sollten viel mehr in die Natur gehen. Ich erinnere mich noch an mein Studium in Detmold, wo es außer dem Teutoburger Wald nicht viel gab. Dort bin ich mit einer Partitur in den Wald oder aufs Feld gegangen, habe in die Wolken geschaut und mir in meinem pubertären Selbstmitleid – romantisch wie ich war – das letzte „Rückert-Lied” von Mahler zu Gemüte geführt.
Vor Ihrem Studium sind Sie mit Ihren Eltern nach Windhoek in Namibia gezogen. Betrachten Sie die fünf Jahre in Afrika als verlorene Zeit?
Kirschnereit: Nein, obwohl ich mit desolaten Voraussetzungen an den Start gegangen bin, mit dilettantischem Unterricht und einer sehr trägen Einstellung. Ich war dreizehn und nahm nach einer dreijährigen Pause seit einem Jahr wieder Klavierunterricht. Da gab es diesen launigen Spruch von mir: „Ich möchte ein großer Konzertpianist werden und übe täglich 20 Minuten.“ In meiner grenzenlosen Naivität dachte ich, das müsste wohl klappen. Dann kam ich mit vierzehn Jahren ohne meine Eltern nach Deutschland und wollte das durchziehen.
Dann folgte die Ernüchterung?
Kirschnereit: Ich merkte plötzlich, was ich alles nachzuholen hatte. Chopin kannte ich bis zum Alter von dreizehn Jahren gar nicht. Ich habe angefangen, mehr zu üben und die Schule vor dem Abitur abgebrochen, was einen Skandal am Gymnasium ausgelöst hat. Der Direktor sagte: „Herr Kirschnereit, solche Leute wie Sie kennen wir. Die werden später Klavierlehrer in Barntrup.“ Der dachte, ich bin der totale Spinner.
Neben den großen Romantikern haben Sie mit den Bamberger Symphonikern von 1999 bis 2005 sämtliche Klavierkonzerte von Mozart eingespielt und erhielten dafür höchstes Lob …
Kirschnereit: Mozart war ein wichtiger Lehrmeister für mich. Wenn man seine Werke gut spielen kann und diesen Sinn fürs Atmen und für Transparenz entwickelt, ist das ein Schlüssel, der auf alles übertragbar ist. Diese Ansprüche der Klarheit und Klangrede sind auch auf Rachmaninow, Ravel oder Prokofjew anwendbar.
Und auf Händel? Ihre jüngsten Einspielungen seiner Orgelkonzerte sind ja ein überraschender Kontrapunkt in Ihrem Repertoire …
Kirschnereit: Die Idee, Händels Orgelkonzerte auf dem modernen Konzertflügel zu spielen, kam von Burkhard Schmilgun, dem Produzenten von cpo. Meine erste Reaktion war abwehrend, weil ich nicht von der Alten Musik her komme. Beim Spielen geschah dann etwas ganz Wunderliches. Ich fing an, neben der spärlichen Notation, die meist nur zweistimmig läuft, noch kleine Ornamente, Zusatzstimmen und Kontrapunkte einzubauen. So entstand ein wirklich kreativer Schaffensprozess, der einmalig war, weil ich das nie wieder so werde spielen können. Ich habe versucht, das aus einem quasi neobarocken, mozartschen Geist anzugehen. Händel war ja wie Mozart auch Opernkomponist und das Singen auf dem Klavier, das Finden der perfekten Phrase, die aber nie steril, sondern immer lebendig und gefühlt sein sollte, ist eines meiner vornehmsten Ziele. Ich habe mich dann total in dieses Projekt verliebt.
Wie erhält man sich die Lebendigkeit bei Werken, die man häufig spielt?
Kirschnereit: Als Musiker sollte man sehr sensibel und kritisch sein – gerade, wenn man viel spielt –, sich immer wieder über die Schulter schauen und fragen: Bin ich jetzt ehrlich und wahrhaftig? Empfinde ich auch, was ich spiele? Es geht darum, das Feuer am Lodern zu halten. Mendelssohns „Variations sérieuses” habe ich unglaublich oft aufgeführt, aber das Werk ist bisher nicht müde geworden. Ich entdecke darin immer wieder neue Aspekte und werde es wohl spielen, bis ich sterbe.
Auch zwischen Dollart und Jadebusen halten Sie ein Feuer am Lodern …
Kirschnereit: Als ich vor fünf Jahren gefragt wurde, ein neues Festival in Ostfriesland aufzubauen und künstlerisch zu leiten, hätte ich mir nie träumen lassen, dass wir im vierten Jahr der „Gezeitenkonzerte“ schon über 10 000 Besucher haben würden. Man pilgert in die Einsamkeit und Stille, ist von Kuhweiden und wunderbaren Wäldern umgeben, während man sich in Burgen, Schlössern und kleinen magischen Kirchen ganz dem Kunstgenuss hingibt. Dieses Jahr gibt die Hong Kong Sinfonietta bei uns ihr einziges Gastspiel in Deutschland.