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INTERVIEW MURRAY PERAHIA

Freiheit, aber nicht Anarchie

Der Pianist Murray Perahia über Bach, Neue Musik und ein Leben unter dem Damoklesschwert

vonArnt Cobbers,

Er ist der vielleicht überzeugendste Bach-Interpret auf dem Flügel. Bei keinem anderen Pianisten klingt Bachs hochkomplexe und zugleich hoch emotionale Musik so „natürlich“, in so idealer Verbindung von Geist und Herz, Tiefe und Leichtigkeit. Murray Perahia wurde 1947 in New York als Kind einer sephardischen Familie geboren (er sprach mit seinen Eltern Spanisch) und lebt seit langem in London. Im Interview wirkt er so, wie man ihn sich von seinen CD-Aufnahmen vorstellt: ein ernsthafter, uneitler Gesprächspartner, der aber auch gern lacht.

Herr Perahia, verstehen Sie sich als Geschichtenerzähler?

Musik hat sicherlich etwas Erzählendes, ob in den Balladen von Chopin oder in einem Beethoven’schen Sonatensatz. Czerny zufolge wollte Beethoven gegen Ende seines Lebens Titel zu all seinen Sonaten schreiben, um uns Hinweise auf deren generelle Stimmung zu geben. Courtot war überzeugt davon, dass in allen großen Werken etwas Erzählendes steckt. Und Rachmaninow hat gesagt, dass er alle Préludes mit einer Geschichte versehen hat.

Tun Sie das auch?

Nein. Die Geschichte ist in den Noten. Ich habe kürzlich Brahms’ Briefe gelesen, die ich sehr interessant fand. Er schrieb einem Freund: Wenn du wissen willst, wie meine dritte Sinfonie ist, greife einen f-Moll-Akkord auf dem Klavier, spiele ihn zart, dann laut, dann pianissimo, dann hast du eine gute Idee von der Sinfonie. (lacht) Natürlich ist das eine Übertreibung, aber auf eine sehr raffinierte Weise dehnt ein Komponist Akkorde aus. Das ist die einzige Art und Weise, wie man Musik hören kann – als ausgedehnte Akkorde. Wenn man sie nicht so hört, hört man nur noch wichtige Episoden, wichtige Details – und löst dabei die organische Struktur auf. Der Zusammenhalt ist enorm wichtig. Und der einzige Weg, den zu erreichen, ist der Kontrapunkt. Das ist eine komplizierte Materie.

Aber das funktioniert nicht bei Neuer Musik.

Nein.

Heißt das, Sie können mit Neuer Musik nichts anfangen?

Ich verstehe sie nicht. Ich verstehe nicht, was sie zusammenhält, ich verstehe die fortwährende Dissonanz nicht. Eine Dissonanz, die nicht aufgelöst, die Normalzustand wird, hat keine Tiefe. Ich habe viel Zeit damit verbracht, die Partituren von Carter, Boulez und anderen zu studieren, aber ich habe es aufgegeben, weil ich kein Land gesehen habe. Ich mag es nicht, wenn Leute sagen: Mir gefällt das nicht! Das ist zu einfach. Aber um Bach und Beethoven besser zu verstehen, musste ich die Gesetze der Tonalität verstehen. Die Gesetze des Kontrapunkts, wie man Dissonanzen auflöst, der ausgesetzte Bass, all diese Disziplinen, die sehr kompliziert sind, an denen aber kein Weg vorbei führt, um die Harmonik zu verstehen. Und je mehr ich davon verstanden habe, desto mehr fühlte ich mich verloren in der atonalen Musik.

Ist die klassische Musik an ihr Ende gekommen?

Sehen Sie, ich spreche nur aus einer bestimmten Perspektive: Ich muss Bach, Mozart, Beethoven verstehen. Das ist eine Lebensaufgabe, in dieser Musik ist so enorm viel Tiefe. Wenn man sich dem nicht verpflichtet fühlt, kann man moderne Musik vielleicht genießen – auf eine andere Art. Ich würde nicht sagen, die Musik ist tot. Ich würde sagen: Sie hat die Verbindung verloren zu der älteren Art, Musik zu machen. Vielleicht wird sich auch wieder eine tonale Musik entwickeln.

Sie haben Ihren ersten Bach vor elf Jahren aufgenommen. Warum so spät?

Als ich aufwuchs, hat niemand außer Gould und einigen Spezialisten Bach auf dem Flügel gespielt. Clifford Curzon zum Beispiel, bei dem ich studiert habe und den ich sehr bewundere, sagte, man dürfe Bach nicht auf dem Flügel spielen, dadurch würde die Musik romantisiert. So musste ich zunächst einen Weg finden, Bach auf dem Flügel nicht romantisch, aber doch mit Expression zu spielen. Denn Bach ist nicht kalt, Musik vom Komponisten der Matthäuspassion kann nicht kalt sein. Ich habe nichts gegen alte Instrumente, aber mein Platz ist am Klavier. Ich habe fast zwei Jahre Cembalo studiert, das ist ein ganz anderes Instrument. Man benutzt andere Muskeln, man muss auf eine ganz andere Art expressiv sein. Und als ich wegen meiner Daumenverletzung nicht spielen konnte, habe ich viel Zeit damit verbracht, über Bachs Musik nachzudenken. Erst dann hatte ich das Gefühl: Jetzt kann ich Bach spielen.

Steht er Ihnen jetzt am nächsten?

Ich möchte auf die anderen auch nicht verzichten. Ich habe zuletzt so viel Bach aufgenommen, weil ich das Gefühl habe, ihn jetzt besser zu verstehen. Und ich denke, ich habe etwas zu sagen. Aber als nächstes werde ich Brahms aufnehmen und danach Chopin.

Hat sich Ihr Daumen wirklich entzündet, nachdem Sie sich an einem Papier geschnitten haben?

Vermutlich.

Und nun führen Sie ein Leben unter dem Damoklesschwert.

Ja. Die Verletzung ist bislang immer wiedergekehrt. Aber ich hoffe.

Können Sie sich ein Leben ohne Klavier vorstellen?

Das wäre sehr schwer. Dann würde ich unterrichten, über Musik schreiben, was auch immer. Ein Leben ohne Musik ginge gar nicht. Es hat jedes Mal ungefähr anderthalb Jahre gedauert, bis ich wieder spielen konnte. Man versucht es immer wieder, und eines Tages geht es.

Sie sind fester Gastdirigent der Academy of St. Martin in the Fields. Haben Sie in einer Verletzungspause mit dem Dirigieren angefangen?

Nein, als ich nicht spielen konnte, habe ich auch nicht dirigiert. Das wollte ich nicht. Ich bin über meine Liebe zur Kammermusik zum Dirigieren gekommen. Ich liebe es, mit anderen zu musizieren, und ich liebe die Mozart-Konzerte. Aber was machen wir in der zweiten Hälfte des Konzerts? Sinfonien! So habe ich angefangen, Mozart, Haydn und Beethoven zu dirigieren. Das ist wunderbar, ich möchte gern mit diesem Orchester so weiterarbeiten. Aber ich bin kein Dirigent.

Die Kritiker waren sich einig, dass Sie reifer geworden seien durch die erste Verletzungspause in den 90er Jahren. Sehen Sie das selbst auch so?

Ja. Im Rückblick war die Pause sehr gut. Damals habe ich das anders gesehen. (lacht)Ich würde jedem raten, das Instrument für eine Weile ruhen zu lassen. Man denkt immer, man müsse üben, sonst verliere man seine manuellen Fähigkeiten. Aber das stimmt nicht. Man verliert nichts. Ein Mann wie Rachmaninow hat lange Phasen mit Komponieren verbracht, da konnte er nicht üben. – Ich habe in dieser Zeit viel über Musik nachgedacht. Ich habe die Schriften von Heinrich Schenker studiert und viele Analysen nach seiner Methodik gemacht. Schenker war Furtwänglers Lehrer, er hatte bei Bruckner studiert. Bruckner hat viele, für Schenkers Geschmack zu viele Regeln gelehrt. Aber wenn ich komponiere, vergesse ich die Regeln, sagte Bruckner. Da stimmt etwas nicht, hat sich Schenker gedacht, die Regeln müssen dazu da sein, dir zu helfen. Daraufhin hat er viele Werke des 18. Jahrhunderts analysiert und ist so zu einem neuen Verständnis der Regeln und ihrer Beziehung zum Komponieren gekommen. Seine Methode ist von unschätzbarem Wert für mich. Der Kernpunkt ist die Stimmführung, wie sich jede Stimme zu jeder anderen verhält.

Sie haben als Kind in der Metropolitan Opera viel Puccini und Verdi gehört. Prägt das Ihr Bach-Spiel?

Das hat mich stark beeinflusst, oh ja. Meiner Mutter war es zu langweilig, so hat mein Vater mich mitgenommen, seit ich vier Jahre alt war. Der Belcanto, die Sanglichkeit ist auch bei Bach sehr wichtig. In seinem Unterricht hat Bach nur Choräle gelehrt. Nicht Fugen, sondern Choräle. Vier Stimmen, jede singt eine eigene Linie, aber alle müssen miteinander verschmelzen. Das ist ein raffiniertes Konzept. Je mehr man den Kontrapunkt studiert, desto mehr sieht man, wie die Stimmen Teil des Gefüges sind, ohne ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Die Stimmen verschränken sich, aber es gibt immer eine Melodie, die führt. Durch den Kontrapunkt entstehen die Harmonien, und durch die Harmonik entstehen die Emotionen.

Welche Spuren hat die Zusammenarbeit mit Benjamin Britten hinterlassen?

Britten war sehr an harmonischen Fragen interessiert. Ich habe damals zum Beispiel am Schumann-Konzert gearbeitet, und Britten interessierte sehr, wie F-Dur mit a-Moll funktionierte. Ganz wichtig war Britten, mit Rubato zu spielen. Nie strikt spielen. Das sah Horowitz, den ich ja auch gut kannte, genauso. Freiheit ist ein ganz wichtiger Teil der Musik. Freiheit mit Regeln. Nicht Anarchie. Aber man ist nicht der Sklave der Noten. Man muss sich beim Spiel frei fühlen.

Wie erarbeiten Sie neue Werke?

Ich beginne mit einer Formanalyse. Wie lang ist eine Phrase, sind diese sechs Takte mit weiteren sechs Takten ausbalanciert usw. Das ist sehr simpel, aber sehr wichtig, bevor man anfängt zu spielen. Dann entwickle ich die Fingersätze, und dann spiele ich das Stück zwei, drei Wochen lang durch, ehe ich eine Schenker-Analyse beginne. Sie eröffnet mir Geheimnisse, die ich sonst nicht entdecken würde. Mozart und sein Vater sprachen von „filo“, das ist italienisch für Faden – der rote Faden, der sich durch ein Stück zieht. Schenker versucht diesen Faden zu finden, der alles verbindet, Harmonik, Melodik. Ich finde diesen Ansatz faszinierend.

Wie lange dauert das ganze Verfahren?

Lange. Wenn ich eine Analyse gemacht habe, versuche ich eine neue, gucke, ob es Sinn macht, und stelle alles immer wieder in Frage. Und das ist ja nur der analytische Teil. Jedes Werk hat eine emotionale Botschaft. Die Stimmführung ist wichtig, um die emotionale Botschaft auszudrücken. Aber unsere Emotionen wechseln dauernd. Man muss immer wieder aufs Neue alles in Frage stellen, man kommt nie an ein Ende.

Ihre Interpretationen wandeln sich?

Jeden Tag. Inspiration und Spontaneität sind sehr wichtig. Ich finde es schön, wenn ich auf Tournee bin, dass ich ein Stück oft spielen kann, und jeden Abend anders. Wenn es mich auf einen bestimmten Pfad verschlägt, muss ich dem folgen. Wenn ich eine Phrase so spiele, muss ich die nächste konsequenterweise auch so spielen. Ich kann dann nicht sagen, ich habe es aber so geübt. Musik lebt. Man muss der Richtung folgen, die sie einem vorgibt. Und sehen, wo sie einen hinführt.

Sie haben diese Werke schon so oft gespielt.

Aber ich bin vielleicht noch nie diesen Pfad gegangen. Es gibt immer noch neue Wege. Und ich möchte mir den Mut bewahren, diese Wege einzuschlagen. Ich mag es nicht, auf Nummer sicher zu gehen.

Sind Sie dennoch ganz ruhig oder hoffen Sie insgeheim, dass es gut geht?

Manchmal muss ich hoffen, dass es gut geht. (lacht

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