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Interview Nicholas Angelich

„Es ist wichtig, offenen Geistes zu bleiben“

Sich mit Musik auseinanderzusetzen heißt für Nicholas Angelich, dass man auch jenen Kompositionen Respekt erweist, die sich einem nicht sofort erschließen.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Mit seiner letzten CD-Veröffentlichung verließ Nicholas Angelich sein Kernrepertoire und intepretierte zusammen mit dem Insula Orchestra unter Laurence Equilbey Beethovens vierte und fünftes Klavierkonzert. Bei seinem Auftritt mit der Dresdner Philharmonie kehrt er wieder zurück zu jenem Komponisten, mit dem man den Pianisten am ehesten assoziiert: Johannes Brahms.

Sie haben eine interessante Herkunft: Ihr Vater, ein Geiger, kam aus Montenegro, Ihre Mutter wurde in der UdSSR geboren, hatte rumänische, armenische und slowakische Wurzeln …

Nicholas Angelich: … und meine Eltern trafen sich 1965 in Serbien. Irgendwann lebten alle Cincinnati, wo ich geboren wurde. Nein, viele Sprachen kann ich nicht. Meine Großmutter sprach ungarisch. Ich blieb bei englisch. Es ging immer sehr leidenschaftlich in unserer Familie zu. Das aber war nicht immer einfach.

Sie leben heute in Paris.

Angelich: Seit vierzig Jahren!

Aber Sie haben keine französische Staatsbürgerschaft.

Angelich: Ich bin tatsächlich niemals Franzose geworden, weil ich meine amerikanische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben wollte. Ich fühle mich in Paris dennoch sehr wohl, habe mir mein Leben sehr gut organisiert. Ich war dreizehn, als ich nach Frankreich kam. Manches entscheidet man, anderes geschieht. Trotz amerikanischer Staatsbürgerschaft fühle ich als Europäer. Ich liebe Brahms, Schumann. Es berührt mich, die Landstriche kennenzulernen, wo sie alle gewirkt haben. Auch die große Musiktradition hier bewegt mich.

Mit Ihrer Mutter hatten Sie noch in Amerika Ihre erste Lehrerin.

Angelich: Sie vermittelte mir eine Basis. Dazu gehörten strenges Training, Systematik, ein Sinn für Struktur, aber auch Sensibilität. Und sie hat mich immer ermutigt, Dinge zu wagen und auszuprobieren, mir ein eigenes Urteil zu bilden und mich nicht zufriedenzugeben. Ich hatte großes Glück.

Und Ihr Vater?

Angelich: Mein Vater liebte das Klavier und war fasziniert von Dirigenten. Auch seine Erfahrungen teilte er mir mit, ich bin sogar mit ihm aufgetreten. Von der Geige selbst war ich wenig angetan, meine Faszination galt von Anfang dem Klavier. Es fühlte sich so natürlich an. Ich liebte den abstrakten Klang, die vielen Stimmen, die man auch im Orchester hat. Auch physisch passte das Instrument besser zu mir. Das Klavier öffnet meiner Meinung nach den musikalischen Horizont, mehr noch als ein Melodie­instrument. Man muss vielschichtiger denken, kontrapunktisch, harmonisch, struktureller gewissermaßen. Man muss wesentlich mehr darüber nachdenken, wie man das musikalische Material ordnet, wie man eine größere Komplexität der Vorgänge organisiert.

Der Bassbariton Dietrich Fischer-Dieskau sagte mir mal im Interview, er sei vielen dummen Sängern begegnet, aber niemals einen dummen Pianisten.

Angelich: (lacht) Dabei wollen wir unser Instrument auch zum Singen bringen! Und das ist gar nicht so einfach.

Mitsuko Ushida nennt eines ihrer Instrumente „Schaljapin“ in Anlehnung an den großen russischen Opernsänger. Vielleicht hilft das?

Angelich: Das ist ja eine schöne Geschichte! Aber da wir ja immer an anderen Instrumenten sitzen, wird es schwierig, denen einen persönlichen Namen zu geben, obwohl jedes Instrument seine eigene Persönlichkeit hat.

Noch mal zu Ihnen. Wie kam es dazu, dass Sie mit dreizehn nach Paris gingen?

Angelich: Irgendwann kam der Punkt, an dem ich weitermusste. Meine Mutter hatte bei einer Schülerin von Alfred Cortot studiert und war fasziniert vom Pariser Konservatorium. Cortot war allerdings schon seit 1962 tot. So kam sie auf die Idee, ein Vorspiel bei Aldo Ciccolini zu organisieren, und ich wurde sein Student. Auch Leon Fleisher und Yvonne Loriod haben mich geprägt …

Sie kamen offenbar gleich in die richtigen Kreise. Mit sechzehn durften Sie vor Pierre Boulez dessen zweite Klaviersonate spielen.

Angelich: Ich war nervös! Es gab so viele Dinge und Details in seiner Partitur, von denen ich dachte, er würde mich auf sie ansprechen und mich korrigieren. Doch er tat dies nicht. Er hörte nur zu. Ich war sehr überrascht. Und als er dann anfing zu reden, sprach er von der Energie, der Bewegung der Musik, dem Flow. Es war fast philosophisch.

Nicholas Angelich
Nicholas Angelich © Jean-François Leclercq

Wie war es bei Madame Loriod?

Angelich: Sie war eine sehr kultivierte Dame und eine große Persönlichkeit. Sie beherrschte ein immenses Repertoire. Sie spielte die beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers, den ganzen Schumann, den ganzen Albéniz, den ganzen Schubert, alles von Beethoven und so weiter und so weiter. Das war wirklich sehr beeindruckend. Dennoch war ihr wichtig, dass man nicht auf Quantität, sondern auf Qualität zu achten habe. Der Zugang zum Werk sei das wichtigste.

Sie spielten auch Loriods Ehemann Olivier Messiaen vor.

Angelich: Er war sehr lieb zu mir und ich war beeindruckt von seiner Wärme, Bescheidenheit und Demut. Irgendwann fragte mich seine Frau, ob ich nicht die „Hammerklaviersonate“ spielen wollte. Ich sagte ihr, es sei doch noch viel zu früh, ich war schließlich erst sechzehn Jahre alt. Madame Loriod aber war der Ansicht, dass Pianisten sich das Repertoire in jungen Jahren aneignen sollten. Mit der Zeit würde man sich entwickeln. Das nahm ich mir zu Herzen. Bis fünf Uhr morgens habe ich teilweise gearbeitet. Es war eine große Herausforderung. Es hat mich glücklich gemacht. Heute weiß ich, dass sie recht hatte.

Sie sagten einmal, jeder Musiker solle auch zeitgenössische Musik spielen. Warum eigentlich?

Angelich: (denkt nach) Es ist wichtig, offenen Geistes zu bleiben. Es ist auch wichtig, Verantwortung zu übernehmen. Außerdem sollte man jedem Komponisten Respekt erweisen, seinem Werk und dem, was er ausdrücken will. Auch wenn es oft schwierig ist und man das Gefühl hat, dass der Komponist buchstäblich „gegen“ das Instrument komponiert. Dennoch ist es sehr wichtig, sich mit Neuer Musik auseinanderzusetzen. Es ist doch auch wunderbar, wenn ein Interpret mit einem Komponisten noch sprechen kann, weil dieser lebt. Die Gelegenheit hat man ja nur selten.

Johannes Brahms lebte geradezu von der Auseinandersetzung mit Künstlern.

Angelich: Das ist wirklich ein wunderbares Beispiel! Brahms liebte den Kontakt zu Künstlern, besonders zu jenen, die ein Instrument spielten, das er so nicht beherrschte. Er beriet sich mit ihnen. Man denke nur an sein Violinkonzert! Auch beim ersten Klavierkonzert schrieb er mit dem Geiger und Dirigenten Joseph Joachim, obwohl er selbst ja ein begnadeter Pianist war.

Ist es für den Interpreten leichter, wenn der Komponist das Instrument kennt, für das er schreibt?

Angelich: Ja und nein. Vielleicht liegt manches leichter in der Hand. Manchmal ist aber auch das Gegenteil der Fall, man denke an all die Werke der Virtuosen wie Liszt oder Rachmaninow. Dennoch finde ich: Eine ausgefeilte Technik ist ein sehr wichtiger, jedoch nicht der einzige Aspekt einer Interpretation, auch wenn viele Menschen einen Pianisten oft nur deswegen bewundern.

Apropos Technik: Es heißt, Sie hätten noch immer keinen Computer.

Angelich: Ja, das stimmt – zumindest teilweise. Ich habe ein Handy, ein kleines iPad und eine eigene E-Mail-Adresse. Immer mehr Menschen sagen zu mir, ich solle mich glücklich schätzen ohne so viele Medien. Es geht heute alles sehr schnell. Das mag zwar aufregend für manche sein, aber wir müssen wieder Zeit und Raum für uns selbst finden, damit wir wieder kreativer werden. Wir lassen uns den ganzen Tag ablenken, leben in einer hysterisierten Welt, stets auf dem Sprung und in der Unruhe und der Angst, etwas zu verpassen. Es ist Zeit, sich wieder zu besinnen.

Sehen Sie hier Nicholas Angelich und das Orchestre de Paris unter der Leitung von Paavo Järvi mit Brahms‘ Klavierkonzert Nr. 1:

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