Herr Altstaedt, wie sind Sie zur Musik gekommen? Stammen Sie aus einer Musikerfamilie?
Nicolas Altstaedt: Meine Eltern sind keine Musiker. Mein Vater ist Gefäßchirurg, aber seine Schwester hat Orgel gespielt und einen französischen Cellisten geheiratet. Dadurch kam der Bezug zur Musik. Mein Vater wollte uns Kindern den Kontakt zur Musik ermöglichen und hat uns deshalb bereits früh mit in Konzerte genommen. So bin ich bereits als kleines Kind mit Aufnahmen, Konzerten und Büchern über klassische Musik in Berührung gekommen.
Hatten Sie in Ihrer Jugend ein Schlüsselerlebnis, bei dem Ihnen klar wurde, dass Sie die Musik unbedingt zu Ihrem Beruf machen möchten?
Altstaedt: Nein, das hat sich ganz natürlich entwickelt. Ich habe mich von Beginn an mit Musik, Kunst und Literatur identifiziert und dafür die größte und natürlichste Leidenschaft entwickelt. Seit ich als kleines Kind erstmals Musik gehört habe, war für mich klar, dass ich in diesem künstlerischen Bewusstsein leben möchte, ohne es bewusst zu entscheiden. Das bedeutete für mich, Mensch sein. Die Musik ist für mich die subtilste Form von Kommunikation. Ich kann über die Musik mehr über die Welt und den Menschen erfahren als über jegliche andere Kunstform oder über die Sprache.
Kommen Sie denn dazu, Kunstveranstaltungen außerhalb von Konzerten zu besuchen?
Altstaedt: Ja. Ich versuche, mir dafür einen Zeitraum zu schaffen. Große Inspiration ziehe ich aus der Arbeit von Schauspielern, Schriftstellern, Choreografen oder Architekten. Mich interessiert einfach, was andere Menschen auf der Welt tun, wie sie ihren Lebensinhalt füllen, was sie zu sagen haben und was davon für mich relevant ist. Ich begeistere mich sehr für das moderne Tanztheater von Akram Khan und Wayne Mc Gregor oder Filme verschiedener Regisseure, um zu sehen, wie sie gearbeitet haben und was deren Innovation war. Daraus schöpfe ich Kraft und Energie für die Dinge, die ich tue. Das ist für mich genauso wichtig wie selbst Stücke zu erlernen und an diesen zu arbeiten.
Sie haben bei hochrangigen Lehrern studiert, unter anderem gehörten Sie zu den letzten Studenten von Boris Pergamenschikow. Von wem haben Sie am meisten profitiert?
Altstaedt: Die wichtigste Begegnung für mich – künstlerisch und menschlich – war und bleibt Eberhard Feltz. Von ihm lerne ich am meisten. Ich arbeite regelmäßig mit ihm, zur Zeit gehen wir alle Bach-Suiten miteinander durch, und jede Begegnung bleibt eine Offenbarung. Ich hatte ihn als Mentor vom Quatuor Ébène kennengelernt, da ich mit den Musikern des Quartetts seit Jahren befreundet bin.
Was ist das Besondere an Feltz’ Unterricht?
Altstaedt: Er ist sein ganzes Leben lang Autodidakt gewesen und hat durch eigenes Lernen, Hören, intuitive Wahrnehmung und klaren Verstand einen transzendentalen und universellen Zugriff auf Partituren entwickelt. Durch die Arbeit mit ihm erschließt sich nicht nur die Musik, sondern das Menschsein auf allen Ebenen, das Verständnis ganzer Epochen. Für mich wirken Werke, die ich seit Jahren gespielt habe, wie beim ersten Mal. Wir hören harmonische Verläufe und Spannungen; wir arbeiten an der Großstruktur und Rhetorik, wir gehen zurück zur Geburtsstunde der Komposition. Durch die Arbeit an Kontrast und Einheit entstehen die musikalischen Gesten und Phrasierungen. Eine Arbeit an einem Satz dauert meist mehrere Stunden.
Welcher Komponist ist Ihrer Meinung nach unterschätzt?
Altstaedt: Sándor Veress. Er steht immer noch im Schatten von Bartók und Kodály. Ich werde jetzt die Solosonate und das Streichtrio bei ECM aufnehmen, zusammen mit dem Bartók-Klavierquintett. Sein Streichtrio war mir stets sehr wichtig, das ist ein absolutes Meisterwerk, das viele Musiker leider gar nicht kennen. Ein weiterer Komponist, der immer noch zu wenig gespielt wird, ist Haydn. Für mich ist es absolut unerklärlich, wie dieser Mann aus Rohrau die Welt verändert hat. Jedes Stück, das er schrieb, brachte eine Innovation mit sich. Ich habe gerade die „Schöpfung” dirigiert, da wird im ersten „Chaos“ bereits Wagners Tristan-Harmonik vorweggenommen, in seiner Sinfonia Concertante die letzte Sinfonie Beethovens.
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Haydn heute immer noch zu wenig gespielt wird?
Altstaedt: Wir leben in einer Zeit der Idolisierung, in der man nach Persönlichkeiten sucht, die sich von der Masse absetzen. Im 19. Jahrhundert gab es Figuren wie Paganini, Liszt oder Berlioz, lauter „verrückte“ Individualisten. Haydn scheint im Vergleich von der Erscheinung her unspektakulär, auch wenn seine Musik alles andere als das ist. Dadurch ist er sehr vernachlässigt worden.
Wenn Sie ein Klaviertrio mit bereits verstorbenen Künstlern bilden könnten, wen würden Sie dafür auswählen?
Altstaedt: Ich hätte wahnsinnig gerne mit den Pianisten Bartók oder Britten gespielt, mit den Geigern Fritz Kreisler und Joseph Joachim.
Und mit welchem historischen Dirigenten wären Sie gerne mal aufgetreten?
Altstaedt: Mit Gustav Mahler. Ich habe seine Aufnahme von den Welte-Mignon-Klavierrollen gehört, die fand ich unglaublich faszinierend, wie zum ersten Mal in seiner Klavierfassung im letzten Satz der vierten Sinfonie jüdische Anklänge zu hören sind. Außerdem soll er den „Don Giovanni” fantastisch dirigiert haben.
Aus der Historie nun in die Zukunft. Was sind Ihre kommenden Projekte?
Altstaedt: Momentan studiere ich das neue Konzert von Esa-Pekka Salonen, welches ich mit ihm beim Helsinki Festival spielen werde. Weitere Schwerpunkte sind die Konzerte von Walton, Prokofjew und Dutilleux. Ich gebe viele „Play & Conduct“- Konzerte, in denen ich Haydn spiele und dirigiere, aber auch späteres Repertoire wie das Schostakowitsch-Konzert vom Cello aus leite. Ich bereite mich auf die „Jahreszeiten” mit Mark Padmore und Christina Landshamer vor, ebenso auf die ersten Beethovensinfonien. Ständige Begleitung sind der Beethovensonatenzyklus mit Alexander Lonquich und die sechs Bach-Suiten. Dafür habe ich mir extra ein fünfsaitiges Cello bauen lassen. Ich liebe den apollinischen Charakter dieses Instrumentes.