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Interview Olivier Latry

„Fünfzig Konzerte musste ich annullieren!“

Auch für den Organisten Olivier Latry lief das Jahr ganz anders als geplant. Doch endlich stehen wieder die ersten Auftritte vor Publikum an.

vonMaximilian Theiss,

Als Olivier Latry sein Amt als Titularorganist von Notre-Dame in Paris antrat, war François Mitterand noch Staatspräsident, gewann Bernard Hinault als bis dato letzter Franzose die Tour de France, saß Olivier Messiaen noch an der Orgel von La ­Trinité. Seit 1985 wirkt Latry an Notre-Dame, es gab Erfolge, Misserfolge, Konzerttourneen und natürlich zahllose Gottesdienste. Bis am 15. April 2019 plötzlich Flammen aus der Kathedrale schlugen.

Herr Latry, 2019 brannte Notre-Dame, 2020 brach die Corona-Pandemie aus. Mussten auch Sie unter diesen Vorzeichen Ihren Beruf neu kennenlernen?

Olivier Latry: Alles ist jetzt anders! Im Prinzip sind meine Kollegen und ich nicht mehr Organisten in Notre-Dame, solange die Kathedrale geschlossen bleibt. Aber trotzdem können wir den Titel „Titularorganist von Notre-Dame“ behalten, und natürlich werden wir nach der Restaurierung wieder an der Orgel spielen.

Wo begleiten Sie seit dem Brand von Notre-Dame Gottesdienste?

Latry: In Saint-Germain-L’Auxerrois, das ist eine etwas kleinere Kirche gegenüber dem Louvre. Wobei es dort natürlich auch einen Titularorganisten gibt und wir – also meine Kollegen von Notre-Dame und ich – gewissermaßen als Stellvertreter arbeiten.

Immerhin konnten Sie seit dem Shutdown wieder erste Konzerte geben.

Latry: Ja, zweimal in Deutschland. Das waren die einzigen Konzerte im Sommer. Etwa fünfzig Konzerte musste ich annullieren! Es ist eine dramatische Situation, für uns alle, nicht nur für Musiker.

Wie war für Sie denn das erste Konzert nach dem Lockdown?

Latry: Es fühlte sich so an, als hätte ich lange Zeit nichts essen können, und plötzlich ist diese Phase der Entbehrung vorbei. Es war eine große Freude! Gleichzeitig war es seltsam, vor so wenigen Leuten in einer Kirche zu spielen. In Leipzig durften nicht mehr als 280 Leute in der Kirche sein, weshalb wir zwei Konzerte am selben Tag gegeben haben.

Auf Facebook haben Sie letztens ein Plakat von Ihrem allerersten Orgelkonzert aus dem Jahr 1977 veröffentlicht. Sie waren damals fünfzehn. Acht Jahre später waren Sie bereits Titularorganist an Notre-Dame. Sowas könnte man eine Blitzkarriere nennen …

Latry: Ich habe damals unglaublich viel Orgel gespielt! Natürlich hatte ich auch Klavierunterricht, Harmonielehre, Kontrapunkt und so weiter. Aber an der Orgel saß ich fünf bis neun Stunden am Tag. Zu der Zeit war es für mich kein Problem, ein Stück an einem Tag zu lernen. Heute ginge das nicht mehr.

Olivier Latry
Olivier Latry

Sie traten mit 23 Jahren diese Stelle an, die für jeden anderen Organisten die Krönung einer jahrelangen, erfolgreichen Karriere gewesen wäre.

Latry: Ich selbst hatte ja gar nicht das Ziel, Titularorganist in Notre-Dame zu werden. Schon vor meiner Geburt war Pierre ­Cochereau an Notre-Dame tätig.

Seit 1955.

Latry: Für mich war es damals einfach undenkbar, dass ein Cochereau sterblich sein konnte! Wie war das möglich, dass er nicht mehr in Notre-Dame ist? Und natürlich, eigentlich ging auch ich davon aus, dass ein renommierter Organist aus Paris Titular­organist wird und man sich dann auf die freigewordene Stelle hätte bewerben können.

Wie erinnern Sie sich denn an die Studienzeit? In Frankreich studiert man ja Orgel und nicht, wie in Deutschland, Kirchenmusik.

Latry: Das hat damit zu tun, dass wegen der strikten Trennung von Kirche und Staat an Konservatorien keine Kirchenmusik gelehrt werden darf. Das Problem ist, dass natürlich viele Organisten nach ihrer Ausbildung an Kirchen arbeiten.

Könnte man sagen, dass in der französischen Orgelkultur der künstlerische und in Deutschland der religiöse Aspekt im Zentrum steht?

Latry: Die Orgel ist schlicht nicht so beliebt wie in Deutschland. Dort gibt es überall sehr gut besuchte Orgelkonzerte, was in Frankreich weniger der Fall ist. Außerdem sind die Instrumente in Deutschland in einem besseren Zustand als in Frankreich, was sich auch auf die Konzerte niederschlägt. Natürlich hört man auch hier gerne Orgelmusik. Aber es gibt nicht mehr diese Tradition wie in Deutschland, wo es normal ist, in ein Orgelkonzert zu gehen oder sonntags in die Kirche.

Wenn man in Frankreich Orgelmusik hören möchte: Geht man dann in einen Konzertsaal oder in eine Kirche?

Latry: In Grunde müssen wir in eine Kirche gehen, denn in Frankreich haben wir kaum Konzertsäle mit Orgel. Außerdem gibt es beispielsweise in der Pariser Philharmonie relativ wenig Orgel-Rezitals. Das Instrument wird reichlich genutzt, aber eben nicht solistisch, weil sonst die Veranstalter befürchten, dass der Saal nicht voll wird. Dennoch funktioniert es! Letztes Jahr habe ich dort ein Konzert gegeben, bei dem die Zuhörer sogar noch auf der Bühne sitzen mussten.

Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie in einer Kirche oder in einem Konzertsaal spielen?

Latry: Klar! Es gibt mehr „Show“ in einem Konzertsaal. Ich kann es aber auch aus dem Gegenteil heraus formulieren: In der Disney Hall in Los Angeles habe ich einmal „L’Ascension“ von Messiaen gespielt, das sehr langsam, sehr poetisch ist, mit langen Akkorden. Und dann habe ich mich plötzlich gefragt: Was mache ich eigentlich? Etwas funktioniert hier nicht. Bei dieser Musik ist es eben besser, sie zu hören, ohne den Organisten dabei zu sehen. In einer Kathedrale hätten die Zuhörer den Altar, ein Kruzifix oder die Glasfenster angesehen – aber keinen Organisten. In einem Konzertsaal braucht man ein Programm, das man „demonstrativ“ spielen kann.

Olivier Latry
Olivier Latry

Noch vor dem Brand in Notre-Dame haben Sie ein Bach-Album eingespielt – an der Cavaillé-Coll-Orgel, die klanglich denkbar weit weg ist von den deutschen Barockorgeln, für die Bach komponiert hat. Müssen Sie da als Organist das Werk bzw. dessen Charakter mehr verändern als ein Pianist, der Bach an einem modernen Flügel interpretiert?

Latry: Für mich war es immer ein Problem, Pianisten zu hören, die Bach-Werke an einem Flügel spielen, als ob es ein Cembalo wäre – beispielsweise indem sie kein Pedal benutzen. Cyprien Katsaris hingegen, der viel Bach aufgenommen hat, nimmt das Klavier als das, was es ist: als ein modernes Instrument des 20. Jahrhunderts und nicht als ein Cembalo. Dann ist für mich die Verbindung zwischen Musik und Instrument perfekt. Aber Sie haben absolut Recht, dass wir an der Orgel immer etwas verändern müssen. Und genau das mag ich: Wenn wir eine bestimmte Orgel das erste Mal spielen, müssen wir jedes uns noch so bekannte Stück gleichsam völlig neu lernen.

Wie lange haben Sie denn gebraucht, bis Bach an der Orgel in Notre-Dame so geklungen hat, wie Sie wollten?

Latry: Ich wollte seit dreißig Jahren diese Aufnahme in Notre-­Dame machen. Das Problem ist: Man braucht viel Zeit, um zu registrieren. Es gibt an der Orgel so viele Möglichkeiten – und damit auch so viele verschiedene Wege zu registrieren.

Handelt es sich dann noch um eine Interpretation oder schon um eine Veränderung einer Komposition?

Latry: Das ist keine Veränderung für mich! In der Musik müssen wir immer das Gravitationszentrum finden. Ein Pianist, der Klavier spielt, als wäre es ein Cembalo, hat dieses Zentrum nicht gefunden – und verändert damit das Stück mehr als er es interpretiert. Umgekehrt ist daher für mich meine Aufnahme in Notre-Dame mehr Interpretation als Veränderung.

Nun gibt es an der Orgel noch das „Genre“ der Adaption, das sehr beliebt ist und das Sie auch pflegen. Beispielsweise haben Sie gemeinsam mit Ihrer Frau Shin-Young Lee eine vierhändige und -füßige Orgelfassung von Strawinskys „Le Sacre du printemps“ gespielt.

Latry: Das war ein wunderschönes Erlebnis! Wir hatten da denselben musikalischen Sinn, als wir das gespielt haben. Ja, man kann sehr viel für die Orgel transkribieren. Aber es ist auch nicht ganz einfach, denn man muss sich dabei immer fragen, ob man nur die Musik spielt, die für ein anderes Instrument komponiert wurde, oder ob wir etwas ganz anderes draus machen müssen. Außerdem ist das Orchester sehr reich an Instrumenten und Klängen. Auch die Orgel hat Klänge, aber sie erzeugt sie mechanisch, wie eine Maschine. Daher ist es eigentlich besser, von Klavier zu Orgel zu transkribieren, da beim Klavier der Klang an sich immer der gleiche ist, zumindest klanglich immer ein Klavier bleibt. Trotzdem sind Transkriptionen von Orchesterwerken unglaublich spannend!

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Bach to the Future

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