Es gibt viele Spezialisten am Pult, die sich auf eine bestimmte Richtung oder gar einen besonderen Komponisten konzentrieren. Die Spezialität von Pablo Heras-Casado ist Vielseitigkeit: Angefangen bei Monteverdi, gründete der heute 45-Jährige bald eigene Ensembles, interessierte sich aber auch für die zeitgenössische Musik, rief mit dem Freiburger Barockorchester die Serie „Die neue Romantik“ ins Leben und fühlt sich bei Mozart genauso wohl wie bei Mendelssohn und Bruckner.
Ihre musikalische Karriere begann in einem Knabenchor. Wuchsen Sie in einer musikalischen Familie auf?
Pablo Heras-Casado: Gar nicht. In meiner Familie gab es weder bildende Künstler noch Musiker, da war ich also der erste. Es war auch nicht einer der Knabenchöre, wie wir sie aus Deutschland kennen, sondern eher eine Gruppe von Interessierten in meiner Grundschule in Granada. In jeder Pause wurden wir von unseren Lehrern angehalten, in die Kapelle zu gehen und dort zu singen. In dieser Zeit erwachte meine Liebe für die Musik, weil es im Alter von sieben Jahren fast wie ein Spiel war, pure Freude am Produzieren von Klängen mit anderen Kindern.
Später studierten Sie erst mal Kunstgeschichte und Schauspiel. Konnten Sie sich nicht entscheiden?
Heras-Casado: Noch als Jugendlicher hatte ich begonnen, Klavier und Violine zu spielen. Nebenher sang ich auch in vielen verschiedenen Vokalensembles und Männerquartetten. Schon im Alter von fünfzehn Jahren wollte ich Chöre dirigieren, das war eine sehr frühe Faszination. Schauspiel habe ich nur einige Monate studiert, um ein besseres Verständnis für das Theater zu bekommen. Ich wollte Geist und Seele für das Geschehen auf der Bühne öffnen, habe Theaterstücke und Gedichte gelesen. Mich hat einfach alles interessiert. Deswegen studierte ich nebenbei auch drei Jahre Kunstgeschichte.
Sie haben schon früh Ihr eigenes Ensemble gegründet.
Heras-Casado: Ich wollte Erfahrungen sammeln, nicht nur im Dirigieren, sondern auch bei der Organisation von Proben und Konzerten. Da es ein Ensemble für Alte Musik war, ging ich in Archive und Bibliotheken und sammelte mir dort mein Material selbst zusammen. Nicht zuletzt habe ich dadurch den Grundstock für mein großes Repertoire gelegt. Noch während des Studiums nahm ich auch Kontakt zu spanischen Jugendorchestern auf und sammelte dort erste Dirigiererfahrungen. Angeregt durch mein Kunstgeschichtestudium interessierte ich mich dann auch für das 20. Jahrhundert und besuchte Meisterklassen zu zeitgenössischer Musik.
Haben Sie dennoch einen Lieblingskomponisten?
Heras-Casado: Eigentlich nicht. Ich habe das Privileg, in den bisher 28 Jahren meiner Dirigentenzeit so viel Repertoire kennengelernt zu haben, dass ich nichts davon missen möchte. Alles davon hat mich auch geprägt. Das beste Beispiel dafür ist, dass ich bis heute an vielen internationalen Bühnen Monteverdi dirigiere, den ich mit sechzehn Jahren für mich entdeckt habe. Er ist mein Lieblingskomponist, so wie es Wagner, Beethoven oder Schumann sind, je nachdem, wo ich gerade bin. Wenn ich eine Woche später woanders Debussy, de Falla oder Strawinsky dirigiere, versenke ich mich dahinein.
Also ist Ihr Spezialgebiet, ein Allrounder zu sein.
Heras-Casado: Ich bin einfach sehr neugierig und empfinde große Leidenschaft in dem, was ich tue. Um mir jeden Tag etwas Neues zu erschließen, braucht es natürlich auch viel Disziplin. Dafür arbeite ich auch wirklich hart.
Haben Sie trotzdem eine Präferenz für die Romantik? Immerhin haben Sie mit dem Freiburger Barockorchester eine Serie dafür aufgelegt.
Heras-Casado: Das ist tatsächlich eines der Gebiete, die ich sehr systematisch und schon lange Zeit zu durchdringen versuche. Vor zwölf Jahren haben wir in Freiburg angefangen, diese Werke von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Seitdem versuchen wir, dieses Repertoire so unverfälscht wie möglich in seiner radikal modernen Klangwelt zu erforschen.
Welchen Kern haben Sie etwa bei Schumann gefunden?
Heras-Casado: Wissen Sie, diese Musik endet nie. Bis heute wirkt sie auf uns in gewisser Weise enigmatisch. Gerade seine Sinfonien bilden ein eigenes Universum, dessen Vielschichtigkeit zu erforschen auf mich immer wie eine Neuentdeckung wirkt. Lange Zeit gab es ja unter Spezialisten die Diskussion, ob er gut oder schlecht orchestriert habe. Mit zeitgenössischem Instrumentarium und einer eher psychologischen Annäherung entwickelt diese Musik eine ganz andere Klarheit und Transparenz, jedes einzelne Motiv erhält mehr Gewicht. Das ist für uns alle eine neue Erfahrung und das, was für mich Musizieren ausmacht. Auf ähnliche Weise nähern wir uns auch Schubert und Mendelssohn, ohne dabei aber für uns reklamieren zu wollen, die ultimative Interpretation zu kennen.
All das ist nur eine Option?
Heras-Casado: Wir müssen lernen, jede Musik aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, egal ob mit historischen oder modernen Instrumenten. Wir müssen wissen, unter welchen Umständen sie entstand, wie groß die Orchester waren, welche technischen Möglichkeiten sie hatten, wie die Instrumente gebaut wurden und vieles mehr. Die Kontextualisierung auf verschiedenen Ebenen macht jede Musik am Ende aus.
Diesen Sommer debütieren Sie mit „Parsifal“ in Bayreuth. Ist das für Sie nur ein Engagement von vielen oder doch ein besonderer Höhepunkt?
Heras-Casado: Natürlich ist das eine besondere Ehre für mich und ein großer Moment in meiner Karriere. Ich bin sehr gespannt darauf.
Richard Wagner füllt ein ganz eigenes Universum aus, viele Dirigenten sind auf ihn besonders spezialisiert. Was macht für Sie sein Genie aus?
Heras-Casado: Diese Spezialisierung auf ein paar wenige Komponisten mag in den sechziger oder siebziger Jahren noch gegolten haben, heute ist das anders. Ich bin auf Wagner ebenso spezialisiert wie auf Monteverdi oder Bruckner. Trotzdem glaube ich auch, dass er sicher das größte Genie seiner Zeit gewesen ist. Solch ein Lebenswerk mit einer solchen künstlerisch-philosophischen Tragweite und lang anhaltenden ästhetischen Nachwirkung zu erschaffen, ist in dieser Dimension auf jeden Fall einmalig. Letztlich haben wir es in jeder seiner Opern mit einer eigenen Revolution zu tun. Schon deswegen ist es wohl für jeden Dirigenten etwas Besonderes, Wagner zu dirigieren.
Nun gibt es weltweit kaum eine Bühne, auf der Sie noch nicht dirigiert haben. Vermissen Sie dennoch etwas in Ihrem Leben?
Heras-Casado: Eigentlich nicht. Ich führe keine Liste, wo ich schon war oder noch hin will. Meine Überzeugung ist, überall kontinuierlich daran weiterzuarbeiten, künstlerisch das Beste aus der Musik herauszuholen. Meine Obsession ist es immer noch, ein besserer Musiker zu werden.
Sie scheinen ein sehr ruheloser Künstler zu sein. Wie haben Sie die Pandemie überstanden?
Heras-Casado: Natürlich war das auch für mich persönlich eine große Tragödie. Andererseits nutzte ich nach dem ersten Schock die Chance, bei mir und meiner Familie zu sein, viel Zeit mit Nachdenken, Studieren und Lesen zu verbringen. Es wäre aber gelogen zu behaupten, ich hätte das Künstlerleben nicht vermisst. Jeder von uns hat ja versucht, so viel Musik anzubieten, wie möglich war.
Wenn Sie sich diese Krise vergegenwärtigen, würden Sie Ihren Studierenden weiterhin empfehlen, sich der Musik zu verschreiben?
Heras-Casado: Es ist sicher eine sehr anspruchsvolle Zeit für einen sehr anspruchsvollen Beruf. Aber wenn sich jemand leidenschaftlich dazu bekennt, würde ich immer dazu raten. Entscheidend ist aber, sich nicht zu verlieren, ganz bei sich zu bleiben in jeder Situation. Wer nur für die Karriere lebt, scheitert.
Wie viel Glück gehört dazu, um professioneller Musiker zu werden?
Heras-Casado: Ich mag das Wort gar nicht. Glück, Zufall und äußere Umstände beeinflussen sicher das Künstlerleben. Erfüllung findet man aber nur, wenn man sich nicht darauf verlässt, sondern auf die eigenen Ziele und die eigene Persönlichkeit.