Die Technik hat mal wieder ihre Launen, als das Interview mit Peter Dijkstra ansteht. Mal hört man, wird aber nicht gehört, mal bricht die Verbindung unvermittels ab, die üblichen Scherereien bei Telefonkonferenzen eben. Der Einfachheit halber einigt man sich auf ein direktes Telefonat über die Privathandys. „Des is g’scheiter“, meint der niederländische Gesprächspartner.
Herr Dijkstra, ich höre da bei Ihnen einen bayerischen Einschlag heraus!
Peter Dijkstra: Ich lebe ja auch schon ein Weilchen hier, außerdem kommt meine Frau aus Bayern. Wenn man einigermaßen musikalisch ist, nimmt man das ohne groß nachzudenken mit auf. Bei mir funktioniert das mit Sprachen ganz komisch. Wenn ich zum Beispiel wegen meiner Arbeit wieder ein paar Wochen in Schweden beim Rundfunkchor bin, dann spreche ich nicht nur Schwedisch, sondern denke auch auf Schwedisch. Mein Gehirn passt sich also recht schnell auf andere Sprachen an.
Haben Sie gleich beim Studium Schwedisch gelernt?
Dijkstra: Das habe ich, ja. Aber das war nur ein halbes Jahr. Später war ich elf Jahre lang Chefdirigent vom Schwedischen Rundfunkchor, da habe ich dann in schwedischer Sprache geprobt, habe Interviews auf Schwedisch gegeben und so weiter. Irgendwann läuft das automatisch.
Ist das eine Wesenseigenschaft von Chorleitern, Sprachen schnell zu lernen?
Dijkstra: Es ist wohl sehr praktisch, dass man mehrere Sprachen spricht. Ich selber spreche neben Niederländisch, Deutsch und Schwedisch noch Englisch, Französisch, Friesisch und Italienisch. Trotzdem ist es bei exotischeren Sprachen so, dass man sich eher oberflächlich mit der Sprache beschäftigt, will heißen: eher mit der Aussprache. Das ist aber nicht unbedingt ein Nachteil: Wenn man eine Sprache sehr gut beherrscht, kann der sprachliche Aspekt so dominant werden, dass man das Musikalische vergisst. Bei einem, sagen wir: russischen Stück jedoch kann ich mich auf den Fluss, die Klänge, die Betonung konzentrieren, erlaube mir also automatisch mehr musikalische Freiheiten.
Haben Sie ein Lieblingssprache?
Dijkstra: Auf jeden Fall nicht Holländisch! (lacht)
Warum nicht?
Dijkstra: Es ist recht hart. Die flämische Aussprache des Holländischen ist da schon deutlich weicher. Lieblingssprachen sind Italienisch und auch Schwedisch, da schwingt immer ein Legato mit. Auch haben die Schweden sehr offene, klangliche Vokale, bei denen die Konsonanten nicht so im Weg stehen wie etwa im Deutschen. Da wird doch relativ hart mit den Konsonanten umgegangen. Aber wegen der reichen Musikliteratur steht auch das Deutsche hoch im Kurs bei mir. Französisch darf ich nicht vergessen, auch hier gibt es wahnsinnig viel schöne Literatur. Die Geschmeidigkeit, die Liaisons, also die Verbindungen der Wörter, die Farbigkeit der Vokale, das sagt mir schon zu.
Was ist mit Latein – für Chorleiter sicher keine unwichtige Sprache?
Dijkstra: Die gehört für mich zum Italienischen dazu. Es gibt aber auch die deutsche Aussprache, in der ich zum Beispiel die Bruckner-Messe mit dem BR-Chor artikuliert habe. Wobei man sich dann wiederum fragen kann, was überhaupt das Deutsch-Lateinische sein soll. Da bekommst du in Norddeutschland eine ganz andere Antwort als in Bayern oder Österreich: Die einen setzen bei „Sanctus“ mit stimmhaftem S an, wir aber singen da das stimmlose S. Am Ende spielt da natürlich der Geschmack eine Rolle.
Bruckner haben Sie ja bereits im Kinderchor gesungen.
Dijkstra: Ich trage seine Kompositionen schon lange mit mir herum, ja. Im Studium habe ich übrigens auch den BR-Chor erstmals aktiv erlebt mit Bruckner-Motetten, und zwar einem Album aus den siebziger Jahren mit Eugen Jochum. Diese Klangfülle, diese runde Färbung des Chorklangs haben mich damals schon unglaublich beeindruckt.
Mussten Sie sich als Protestant erst an den überbordenden Katholizismus eines Bruckner gewöhnen?
Dijkstra: Ich bin tatsächlich protestantisch aufgewachsen. Aber schon während meines Studiums habe ich mich mit den mystischen Bereichen von Religion befasst und habe auch Gregorianik studiert. Wobei der Süden Hollands ja auch katholisch geprägt ist, insofern war mir diese Kultur nicht völlig fremd. Mein Zugang zum katholischen Glauben hat sich noch verstärkt, seit ich hier in Bayern bin mit der Familie. Ich habe mich in dieser Hinsicht schon verändert seit meiner Jugend.
In Bayern sind Sie nicht nur in München, sondern seit Herbst auch in Nürnberg tätig, als Professor für Chorleitung an der dortigen Musikhochschule. Wie gefällt’s Ihnen dort?
Dijkstra: Sehr gut! Wir haben tolle Professoren, die Studenten sind sehr offen. Mir gefällt auch die Hochschule an sich, die nicht sehr groß und deshalb auch recht persönlich ist. Auch zur Gesangsabteilung besteht ein reger Kontakt, was sehr wichtig ist. Chorgesang sollte ein wichtiger Bestandteil der Sängerausbildung sein, nicht nur der solistische Bereich. In Nürnberg teilt man diese Meinung, und das finde ich klasse!
Werden generell unter Sängerinnen und Sängern zu viele Solisten ausgebildet?
Dijkstra: Es ist schon üblich, dass man Gesang studiert, um Solist zu werden. Hingegen für Chorgesang, ob Oper oder Vokalensemble oder Rundfunkchor, wird man nicht oder nur kaum ausgebildet. Das war aber auch schon zu meiner Zeit so – ich hab ja in Den Haag auch Gesang studiert. Meine Erfahrungen als Ensemblesänger habe ich tatsächlich außerhalb des Studiums gesammelt. Aber hier in Nürnberg merke ich, dass das anders ist, dass da deutlich mehr Realitätssinn vorhanden ist. Am Ende gibt es hierzulande auf dem Klassikmarkt viel weniger Solistenstellen als es ausgebildete Sänger gibt. Professionelle Chorsänger brauchen zwar eine solistische Grundlage und müssen entsprechend ausgebildet werden, aber muss man auch schon während des Studiums an den Ensemble- und Chorgesang herangeführt werden.
Von Nürnberg nach München zum BR-Chor: Elf Jahre leiteten Sie das Ensemble, dann gab es eine sechsjährige Pause, ehe Sie 2022 zurückgekehrt sind. Wer hat sich in der Zwischenzeit mehr verändert: der Chor oder Sie?
Dijkstra: Ich finde, wir beide haben uns ein bisserl verändert. Ich sage immer, ich hatte ein sechsjähriges Sabbatical, und die zwischenzeitlichen Erfahrungen prägen einen sicherlich. Aber um nochmal auf die eben von mir erwähnte Aufnahme aus den siebziger Jahren zurückzukommen: Auch wenn die Ästhetik der Interpretation anders war, so finde ich, dass über die Dekaden hinweg der Chor von der Basis her immer ähnlich geblieben ist, also was Klangidentität und Klangfülle anbelangt. Das hat sich auch in den sechs Jahren meiner Abwesenheit nicht verändert – zum Glück! Einige Sänger sind nicht mehr da, aber auch die neuen Sänger werden nach der Klangkultur unseres Chores ausgewählt. Bei Vorsingen stimmt ja immer der ganze Chor mit ab. Das finde ich schon interessant: Auch wenn der Chor personell nicht mehr derjenige aus den Siebzigern ist, ist er immer noch vom Klanglichen her ganz klar derselbe Chor.
Wie weit ist es mit der Klangtradition her, wenn ein Chor plötzlich gegen fünfzehn Bläser ansingen muss, wie es bei der erwähnten Bruckner-Einspielung von Ihnen und dem BR-Chor der Fall war?
Dijkstra: Man muss schon schauen, dass die Balance stimmt. Konkret heißt das, dass wir für die Aufnahme wie auch für das Konzert in Nürnberg aufstocken müssen. Wir haben 44 Sänger in der Stammbesetzung. Das ist nicht klein, aber an einigen Stellen muss man eben über die Fülle der Bläser drüberkommen. Die Klangfülle des Chores muss uneingeschränkt und plastisch zum Ausdruck kommen, und ich finde, dass uns das sehr gut gelungen ist.
Haben Sie denn eine Lieblingssinfonie von Bruckner?
Dijkstra: Oh, für mich als Bruckner-Fan ist das keine leichte Frage. Die Fünfte packt mich immer sehr, vor allem wegen der Ausarbeitung der Themen und wie dann am Schluss des letzten Satzes die Doppelfuge kommt, in der dann die Themen alle miteinander verbunden werden. Das ist einfach fantastisch! Aber eigentlich ist auch die Sechste toll, die letzten drei sind es natürlich auch. Bei den ersten drei, muss ich sagen, tue ich mich noch ein bisschen schwerer, aber ab der Romantischen bin ich sehr zu Hause. Im Konzertsaal kann die fast schon zu einem liturgischen Erlebnis werden.