„Sleepless“ heißt die 2020 vollendete „Opera Ballad“ von Peter Eötvös, ein Auftragswerk der Berliner Staatsoper Unter den Linden und des Grand Théâtre Genève. Der Komponist wird dem Operntitel absolut gerecht: Nach einer Probe fand er um neun Uhr abends noch Zeit und Energie für ein Interview.
Herr Eötvös, für die Staatsoper Unter den Linden haben Sie die Opernballade Sleepless nach einem Text von Jon Fosse geschrieben. Der norwegische Roman- und Theaterautor thematisiert oft die Unbehaustheit der Menschen in der Welt und die Sinnlosigkeit des Daseins. Worum geht es in diesem Stück?
Peter Eötvös: Die Geschichte ist eine Ballade über Zugehörigkeit, die es nicht gibt. Eine traurige Geschichte voller Verschwiegenheit, Melancholie, Surrealismus. Die Geschichte ist ganz einfach, fast biblisch. Auch hier gibt es Ursache und Wirkung. Die Frage ist: Was sind die Gründe dafür, dass jemand schlecht handelt? Gibt es nicht immer einen Grund dafür? Kann man die Sünde auch rechtfertigen? Der Titel „Sleepless“ bezieht sich auf die Schlaflosigkeit der Hauptfigur, die seelisch bedingt ist.
Asle erwartet gemeinsam mit seiner Freundin Alida ein Kind. Sie sind beide minderjährig, können deshalb nicht heiraten. Sie leben seit der Kindheit zusammen. Ihr Versuch, ohne Unterstützung auszukommen, wird von ständigem Unglück begleitet. Der Eigentümer des Bootshauses, in dem sie wohnen, Alidas Mutter und die Hebamme setzen sie vor die Tür, sie sind der kalten, regnerischen Nacht ausgeliefert. Asle will Alida und das Kind um jeden Preis beschützen, von animalischen Instinkten getrieben tötet er die drei ihn abweisenden Personen. Er ist sich bewusst, dass er durch die Tat einen Fehler begeht, sieht aber keine andere Lösung. Alida versetzt er in einen traumreichen Schlaf, er selbst wird von den Dorfbewohnern verfolgt, gefangen und gehängt.
Was beschäftigt Sie an dem Stoff am meisten, szenisch und musikalisch?
Eötvös: Die Oper als Gattung beschäftigt sich ja fast immer mit dem Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Wenn die Figuren keinen Konflikt mit ihrem Umfeld haben, geht es in der Oper lediglich schön und manchmal langweilig zu. Dann entsteht keine Spannung, und dann entsteht auch kein Crescendo, um es mal einfach zu sagen. In „Sleepless“ stellt sich vor allem die Frage, weshalb die anderen Dorfbewohner, die Asle im Grunde zum Töten gezwungen haben, straflos bleiben. Meine Frau Mari Mezei, die das Libretto geschrieben hat, und ich – wir haben dieses Problem nicht so wörtlich wie Jon Fosse formuliert. Wir übertragen die Verantwortung eher an die Zuschauer: Bitte denken Sie mal nach – wir finden auch heute immer sehr schnell die Schuldigen, töten sie oder sperren sie ein. Aber die Anderen, die die Schuldigen in die Schuld gedrängt haben, weshalb bleiben die straflos?
Vielleicht stellt man sich solche übergeordneten moralischen Fragen aus einer höheren Perspektive gerade dann, wenn man wie Sie lange ein großes Interesse an den letzten Fragen der Menschheit hatte – daran, woher wir eigentlich kommen. Sie haben eine gewisse Affinität zu Fragen, die den Kosmos betreffen.
Eötvös: Das kommt aus meiner Kindheit und Jugend. Ein ganz prägendes Ereignis für mich war, als der Kosmonaut Juri Gagarin 1961 als erster Mensch in den Weltraum geschossen wurde und die Erde in einer Raumkapsel umrundete. Ich war siebzehn Jahre alt und wohnte in Ungarn. Es war für mich zuvor unvorstellbar gewesen, dass jemand die Erde verlassen könnte, dass es da draußen überhaupt noch etwas gibt – und nun erlebte ich es plötzlich mit. Ich habe damals auch das Klavierstück „Kosmos“ komponiert, das heute immer noch gespielt wird. Es scheint gar nicht schlecht zu sein. Das damals erwachte Interesse an diesen Dingen setzte sich fort. Das war eigentlich immer nur privat, nichts Wissenschaftliches. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, dass wir alle aus dem Kosmos entstanden sind. Ich betrachte mich selbst eben auch nur als ein Produkt kosmischer Vorgänge und versuche, meine Aufgaben als dieses Produkt zu erfühlen. Es gibt einen ständigen Überprüfungsvorgang in mir. Ich bin nicht schizophren, aber ich befrage alles, was ich tue, in Hinblick darauf.
Sie haben das Stück 1999 nochmal umgeschrieben. Da waren Sie dann bereits 55 Jahre alt. Sie haben damals noch ein zweites Klavier hinzugefügt – was hatte das für einen Grund, nach so langer Zeit so in das Stück einzugreifen?
Eötvös: Das hatte einen rein akustischen Grund. Ich habe durch die Erfahrung mit der Stereofonie damals gelernt, wie der Raum sich in der Musik, im Klang manifestiert. Das kann ich erlebbar machen, wenn ich zwei Klaviere das gleiche Material spielen lasse, aber zeitlich leicht versetzt. Dann entsteht für die Hörer das Raumgefühl. Die Klaviere spielen das gleiche Material, aber unabhängig voneinander. Sie sind so weit wie möglich voneinander aufgestellt. Damit die Musiker akustisch in Kontakt sind, aber nicht fähig, zusammen zu spielen. Der Raum, der durch den Klang entsteht, stellte auf noch sinnlich stärker erfahrbare Art als in der Urfassung meines Stückes den Kosmos dar.
Fassen Sie diese Musik eigentlich nur als eine Art musikalisches Theater auf, das in diesem Fall den Kosmos darstellt – oder ist die Musik selbst der Kosmos für Sie?
Eötvös: Das ist noch kein Theater! Hier wird eher Freude artikuliert – die Freude darüber, dass man mit Akustik diesen Raum gestalten kann. Ich erfreue mich an diesen wunderbaren Fähigkeiten, die wir haben – des Sehens und des Hörens. Wobei Tiere beides natürlich noch viel besser können als wir. Auch ich habe den Versuch aus Kosmos, Zeit und Raum zu gestalten, später noch verfeinert. Für die Hamburger Elbphilharmonie habe ich vor einigen Jahren das Stück „Multiversum“ komponiert. Da kommen neben dem Orchester eine Orgel und eine Hammond-Orgel zum Einsatz. Beide Instrumente sind in ganz verschiedenen Ecken des Raums aufgestellt. So entsteht ebenfalls ein Klang, der den Zuhörer umgibt, jetzt aber nicht räumlich einfach nur durch versetzte Einsätze, sondern sehr präzise notiert. So entsteht auch ein Klang, der den Zuhörer umgibt. Das ist so, als ob ich ein Bild des Kosmos von außen anschauen würde …
… was nur für einen Künstler funktioniert, in der Realität aber nicht: Sie laden als Komponist die Zuhörer ein, sich das Universum von außen anzuschauen. Sie sind offenbar durch die Schriften von Edward Witten auf diese und ähnliche Dinge gekommen: Dort geht es um Gravitation, mehrdimensionale Zeit und die mögliche Verbindung von Quantenmechanik und Relativitätstheorie sowie die Theorie von Parallelwelten.
Eötvös: Ja, mich interessiert das Prinzip, nach dem die Welt funktioniert. Wie sind die Dinge entstanden? In welcher Folge? Wie kommt es dazu, dass wir Sauerstoff haben und leben können? Und wie sind wir als Menschen fähig, aus dieser vorher aufgebauten Reihe von Ereignissen unsere Funktion im Hier und Jetzt zu finden? Ich denke meinen eigenen Beruf als eine Funktion. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, weil ich die Fähigkeit zum Musikschreiben habe. Klavier spiele ich auch nicht so schlecht, aber ich habe mehr Begabung zum Komponieren.
Sie sind einer der wenigen Komponisten der Gegenwart, die sowohl in der Neue-Musik- als auch in der etablierten Klassikszene einen Namen haben. Empfinden Sie namentlich als Opernkomponist in dieser Hinsicht eine Diskrepanz?
Eötvös: Nein. Ich schreibe für Stimmen, die an anderen Tagen „La traviata“, „La Bohème“, „Aida“ singen. Ich freue mich sehr darüber, dass die Oper seit 400 Jahren existiert, und betrachte mich als Bindeglied in der Operntradition. Jede Oper charakterisiert ihr Zeitalter. Wir brauchen nicht zu wissen, wann eine Oper geschrieben wurde, wir hören es sofort. Ich hoffe, dass meine Opern in 200 Jahren als repräsentativ für das Zeitalter werden, in welchem wir jetzt leben. Deshalb arbeite ich auch so oft mit lebenden Schriftstellern zusammen.