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Interview Pierre-­Laurent Aimard

„Die Hierarchie wird in der Kunst oft vergessen“

Im Gegensatz zu den Komponierenden sieht sich Pierre-Laurent Aimard als Interpret in einer bescheidenen Rolle, wenn auch mit Begeisterung für alles Neue.

Der Jubiläumsstress nimmt für Pierre-­Laurent Aimard kein Ende: 2022 war er als Instanz der Messiaen-Interpretation vielgefragt, als die Welt den dreißigsten Todestag des Komponisten beging. In diesem Jahr wiederum ist seine unvergleichliche Expertise als Ligeti-Kenner gefragt: Der Meister der Mikrotonalität wäre in diesem Monat hundert Jahre alt geworden. Doch Aimard hat außerhalb der Musik noch viele andere außerordentliche Begabungen.

Ich las, dass Sie je nach Thema in unterschiedlicher Sprache sprechen. Auf Deutsch beispielsweise, wenn es um Philosophie geht.

Pierre-­Laurent Aimard: Oh, ich weiß nicht, ob ich gut genug in Deutsch bin, um über Philosophie sprechen zu können, aber wenn das so dastand, ja, dann stimmt es wohl. Die Wahrheit kann man vielleicht nur auf Deutsch sagen. Aber es gab auch große Philosophen aus anderen Ländern.

Und in englischer Sprache, wenn Sie über Technik sprechen …

Aimard: Ich benutze die Sprache, die passt. Die englische Sprache ist sehr direkt, sehr klar, sehr pragmatisch. Man kann gut kommunizieren.

Französisch für die Emotionen, etwa mit Ihren Kindern?

Aimard: Als Basis ja, aber wir sprechen auch andere Sprachen, je nach Situation.

Und wie ist das mit der Sprache der Musik? Haydn sagte: „Meine Sprache versteht man auf der ganzen Welt“.

Aimard: Ich bin mir nicht sicher, ob jeder Zuhörer im Mittlerem Osten oder in Zentralafrika so denken würde. Das gilt heute so nicht mehr. Zur Zeit Haydns gab es die Sprache eines Kollektivs, einer im Großen und Ganzen homogenen Gesellschaft. Zu dieser Zeit glaubte man, es gäbe nur eine Kultur: die weiße, westeuropäische, dominierende Kultur. Inzwischen beobachtet man die Welt glücklicherweise mit anderen Augen. Heute sieht man Kultur als ein komplexes Netz von Hierarchien.

Sie sind in einem intellektuellen Ärztehaushalt aufgewachsen. Lag es an Ihrer Begabung für Mathematik, dass Sie sich von klein auf für die Sprache der zeitgenössischen Musik interessierten?

Aimard: Mein Mathematiklehrer war sehr traurig, dass ich mich für Musik entschied. Aber ich hatte immer eine Faszination für die abstrakte Welt. Gleichzeitig war mein Interesse für Musik sehr intuitiv und impulsiv.

Mit sieben spielten Sie die Sechs Kleinen Klavierstücke op. 19 von Schönberg, mit neun Musik von Pierre Boulez, mit zwölf Jahren wurden Sie in Paris Schüler von Yvonne Loriod, der Frau des Komponisten Olivier Messiaen.

Aimard: Ich fand es gar nicht außergewöhnlich, dass ein Junge sich mit solchen Komponisten beschäftigte. Für mich war das normal. Es erscheint nur in unserer sehr konservativen Welt ungewöhnlich. Das ist für mich wie eine mentale Sklerose und kommt von der Musik-Ausbildung, die meiner Meinung nach nicht in Kontakt mit der künstlerischen Realität ist. Ich versuche die seit Jahren in Workshops, im Rundfunk, Fernsehen aufzubrechen, bin mir aber nicht sicher, ob ich bisher erfolgreich war.

Mit neunzehn Jahren wurden Sie Gründungsmitglied des Ensemble intercontemporain. Sie waren bei der Geburtsstunde vieler Werke dabei, etwa von Elliott Carter oder Karlheinz Stockhausen. Sind Sie hinter das Geheimnis des Schöpferischen des Komponierens gekommen?

Aimard: Nein, in keinem Fall. Als Interpret war ich in einer bescheidenen Rolle, allerdings mit wahnsinniger Begeisterung für alles Neue. Wir leben heute in einer Welt der Show im buchstäblichen Sinne. Den Menschen, die auf der Bühne stehen, wird alle Aufmerksamkeit gegeben, nicht aber denen, die das Werk erschaffen haben. Die Hierarchie in der Kunst wird oft vergessen.

Wagte sich schon in jungen Jahren an die schwierigen Klavieretüden Ligetis: Pierre-Laurent Aimard
Wagte sich schon in jungen Jahren an die schwierigen Klavieretüden Ligetis: Pierre-Laurent Aimard

Olivier Messiaen jedenfalls durften Sie nicht in den Wald begleiten, wenn er sich auf die Suche nach Vogelstimmen machte, die so bestimmend für sein Werk wurden.

Aimard: Der Kompositionsprozess ist ein Geheimnis und soll es bleiben. Ein Mysterium. Wir leben in einer Welt mit ausgeprägtem permanentem Voyeurismus, in der man alles beobachten will. Die Intimität wird dabei getötet. Umso kostbarer der unbeobachtete Moment. Im Falle von Olivier Messiaen war unser Verhältnis nicht so, dass man es väterlich nennen konnte, sondern stets voller Respekt. Ohne seine Frau hätte er dieses Material niemals zusammentragen können.

Wenn Sie einen Zeitsprung machen könnten: Welchen Komponisten hätten Sie gerne bei seiner Arbeit beobachtet?

Aimard: Ich mache keine Zeitsprünge. Mir geht es ums Jetzt, um die permanente Entwicklung als Interpret. Mir geht es um lebendige Kunst und nicht um Nostalgie. Es gibt keinen Platz für verlorene Paradiese.

Sie sprachen vorhin von der Hierarchie in der Kunst. Umgekehrt waren Sie für György Ligeti, dem Sie Anfang der achtziger Jahre erstmals begegneten, schlicht „der beste Pianist“. Wie sehen Sie das?

Aimard: Sie sagen, das waren seine Worte? Ich habe selbst nichts dazu zu kommentieren. Ein Komponist hört den Interpreten seiner Werke immer in einem bestimmten Kontext. Mein Kontext ist aber der, dass ich jeden Tag früh aufstehe und mit einem Kaffee zu den Noten gehe, mit permanenten Fragezeichen und Zweifeln. Ich bin ein Arbeiter wie jeder andere, der versucht seine Kräfte und Energien gut zu nützen.

Zu einer Klavieretüde, die eigentlich nur noch von selbstspielenden Klavieren zu bewältigen ist, notierte Ligeti: „Bei entsprechendem Arbeitsaufwand ist auch die Aufführung durch einen lebendigen Pianisten möglich.“ Wie haben Sie überlebt?

Aimard: Die Klavier-Etüde „Vertige“ habe ich erarbeitet und immer wieder geübt. Die Unsicherheit, die man verspürt, macht einen auch gleichzeitig kreativ, um Lösungen zu finden.

Nach so einem Zyklus fühlten Sie sich tot, räumten Sie mal ein, weil Ligeti Sie an die Grenze bringe.

Aimard: Ligeti bringt mich nicht nur an die Grenze, es ist einfach eine andere Art von Kraft, die ich für sein Werk brauche, die Kraft der Zerstörung. Aus ­Ligetis Musik spricht die Apokalypse des 20. Jahrhunderts. Er erlebte so viel menschliches Leid, sein Vater starb an Typhus im KZ, sein Bruder wurde im KZ Mauthausen umgebracht. Die Katastrophen haben ihn zutiefst deprimiert und das erklärt ein Teil seiner Musik.

Aber Bach hat auch Katastrophen erlebt. Etliche seiner Kinder sind gestorben. Wir tun immer so, als hätten die Menschen vor dem 20. Jahrhundert nicht gelitten.

Aimard: Dennoch lebte er in einer Zeit, in der man aus dem Glauben heraus vielleicht auch Hoffnung und Zuversicht schöpfen konnte. Es war kulturell eine andere Situation.

An die schwierigen Klavieretüden Ligetis trauten Sie sich bereits in jüngeren Jahren. Bei den Werken von Johann Sebastian Bach ließen Sie sich wesentlich mehr Zeit und präsentierten sie öffentlich erst im Alter von fünfzig. Warum?

Aimard: Ich war nicht ungeduldig. Die Werke sind nicht dazu da, um sie für einen Karriere zu benutzen. Das sind so komplexe, so reiche Schätze und unsere Rolle als Interpret ist es, zu versuchen, sie in all ihren Dimensionen zu beleuchten. Man muss eine résistance gegen den Markt entwickeln, der auf Show setzt und er kann sehr korrumpiert sein. Er kann junge Talente vernichten, da muss man sehr aufpassen. Ich beobachte das seit Jahrzehnten. Die Versuchung ist groß. Auf der anderen Seite gibt es mittlerweile große Vielfalt auf einem generell sehr hohen Niveau. Das finde ich toll.

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