Zunächst war es der prall gefüllte Terminkalender von Ray Chen in Hong Kong, der dem Interview-Termin im Wege stand – wenig später die unvermeidlichen Verspätungen auf Langstreckenflügen nach Europa. Als dann in der concerti-Redaktion doch noch das Telefon klingelte, war von der Hektik der Vortage nichts mehr zu spüren.
Herr Chen, Sie haben Ihre Wurzeln in Taiwan, sind aufgewachsen in Australien und gingen dann mit 15 Jahren in die USA, um am Curtis Institute of Music zu studieren. Wie hat sich all das auf Ihre Karriere ausgewirkt?
Ray Chen: Meine multikulturellen Wurzeln helfen mir, mich besser auf andere Kulturen einzulassen. Wenn man sich nicht hundertprozentig zu etwas zugehörig fühlt, können alle Orte zu einer Heimat werden, man muss es nur wollen. Seinen eigenen Willen muss man dabei immer wieder überprüfen, und so erreicht man schon als junger Mensch eine andere Ebene des Denkens. Die Tatsache, dass ich klassische Musik mache, die ihren Ursprung an keinem der Orte hat, an denen ich aufgewachsen bin, brachte mich zwangsläufig in Kontakt mit Menschen.
Haben Sie deshalb auch nach der Suzuki-Methode Violine spielen gelernt?
Chen: Viele Violinisten lernen mittlerweile nach dieser Methode, weil eben in Gruppen musiziert wird. Der soziale Aspekt steht dabei im Mittelpunkt. Man hat praktisch immer Verstärkung und man lernt schnell, keine Angst vor dem Publikum zu haben. Für mich war es durchweg positiv.
Spielen Geiger, die mit der Suzuki-Methode ausgebildet wurden, anders als jene Kollegen, die den „klassischen“ Einzelunterricht genossen haben?
Chen: Es geht darum, schnell ein gewisses Gefühl für die Musik zu entwickeln – und das aus einer sicheren Umgebung heraus. Zudem lernt man zunächst mit dem Gehör und kümmert sich erst später um die Noten. Es ist also eher so, als würde man einen Radiosong mitsingen. Ob es anders klingt, weiß ich nicht, natürlich ist man in der Gruppe zunächst an sehr strikte Rhythmen gebunden, was im Übrigen ein Kritikpunkt an der Methode ist. Etwas Musikalität bleibt vielleicht auf der Strecke, man übt zum Beispiel auch keine Skalen und Tonleitern. Die meisten Violinisten wechseln aber ohnehin nach drei oder vier Jahren zur traditionelleren Unterrichtsform.
Auf Ihrer Website schreiben Sie, dass Sie den Job des klassischen Musikers im 21. Jahrhundert neu definieren möchten. Wie stellen Sie sich das vor?
Chen: Seit Ewigkeiten gehen klassische Musiker auf die Bühne, spielen, verlassen die Bühne anschließend wieder, und das war es dann. Was während des Konzerts passiert, kann magisch sein, es kann aber auch genau das sein, was vom Publikum verlangt wird. Das alleine ist schon ein Fulltimejob und braucht mitunter ein ganzes Leben der Übung. Ich glaube aber, dass es auch andere Dinge gibt, die heute in der Verantwortung des Künstlers liegen. Musiker sollten heute Botschafter ihrer Sache sein, auch abseits der Bühne. Ich definiere dieses Botschafter-Dasein über das Kommunizieren mit den großartigen Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter, Instagram und YouTube.
Bedeutet die Neudefinition also, ein neues Publikum über Social-Media zu generieren?
Chen: Durchaus! Es wird natürlich immer Leute geben, die zu den Konzerten kommen. Dann gibt es aber auch gerade viele jüngere Menschen, die von klassischen Konzerten ein wenig abgeschreckt sind, aber durchaus ein Instrument spielen oder lernen, weil es einfach ein Teil ihres Bildungsanspruchs ist. Wenn wir als Musiker nun ein wenig härter daran arbeiten, diese Leute zu erreichen, generieren wir ein ganz neues Publikum.
In Ihren Video-Posts sparen Sie selten an Witz und Ironie. Haben Sie keine Angst, dass man Sie irgendwann nicht mehr ernst nimmt?
Chen: Es muss natürlich immer eine nötige Balance geben, dazu aber auch eine klare Vision und Botschaft! In dem Fall ist es wie im richtigen Musikerleben auf der Bühne. Man muss wissen, was man mit einem Stück ausdrücken möchte. Natürlich produziere ich auch viele Comedy-Videos, sie haben aber alle etwas mit Musik zu tun oder mit meinem Instrument. Klassische Musik hat da durchaus Potenzial, witzig und humorvoll zu sein, obwohl ihr Image leider ein anderes ist. Es entspricht eher dem strengen Frack mit schwarzer Fliege. Wenn wir aber die Möglichkeit haben, jungen Leuten zu zeigen, dass es noch eine andere Seite gibt, sollten wir sie nutzen. Und natürlich mache ich auch ernste Videos, ansonsten könnte man wirklich schnell in den einminütigen Videos auf Instagram eine falsche Botschaft vermitteln. Als ich am Anfang stand und gerade den Menuhin- und den Reine Elisabeth-Wettbewerb gewonnen hatte, gab es noch keine sozialen Medien. Heute ist es für die Kids ein Teil ihres täglichen Lebens. Für mich ist das immer noch total verrückt.
Hat sich denn bei den großen Wettbewerben auch etwas verändert?
Chen: Wettbewerbe können nach wie vor karrierefördernd sein, eine Garantie dafür gibt es aber nicht. Schwierig ist es natürlich deshalb, weil es heute so viele Wettbewerbe und damit auch so viele Gewinner gibt. Wirklich gut sind diese Veranstaltungen, um sich vorzubereiten. Ich meine: Wie häufig steht man als Student schon auf der Bühne eines großen Saals und darf mit einem renommierten Orchester spielen? All die Arbeit im Vorfeld bereitet einen dennoch sehr gut auf das Musikerleben vor. Witzig ist wirklich, dass ich immer dann, wenn ich zu gewinne glaubte, es nicht geschafft habe.
Ihr neues Album trägt den Titel „The Golden Age“. Welches Goldene Zeitalter meinen Sie damit?
Chen: Ich verbinde damit eine Ära mit Geigern wie Fritz Kreisler, Jascha Heifetz, Nathan Milstein und vielen mehr. Diese Leute hatten einen bestimmten, fast scharfen Ton. Ironischerweise wirkt es fast beleidigend, wenn man heute so spielen würde. Durch den warmen, knisternden Klang der Vinyl-Aufnahmen mussten sie es aber so machen, um Gestalt in die Musik zu bringen, beispielsweise beim Phrasieren. Mein Album ist nun dieser Ära gewidmet, aber auf eine andere Art. Viele Klassik-Fans schätzen dieses Zeitalter sehr und fragen immer wieder, warum man heute nicht mehr so spielt wie damals. Dabei liegt die Antwort auf der Hand: weil man damit einer alten Technologie hinterherjagen würde. Die heutigen Mikrofone nehmen ganz anders auf als damals. Es ist wie in der Fotografie. Vergleichen Sie einfach mal Bilder von früher und heute, der Unterschied ist enorm. Um denselben Effekt wie früher zu erreichen, müssen wir heute anders spielen. Es ist wie in den James Bond-Filmen: Es soll im Prinzip immer den gleichen Style haben, nur eben mit neuen Mitteln. In der Musik wird es dennoch nie so gut sein wie im Original. Das Goldene Zeitalter mag vielleicht etwas aus der Zeit gefallen sein, es kann jedoch auch etwas aus der Zukunft sein, wir müssen es nur dazu machen.
Sehen Sie den Trailer zu Ray Chens neuem Album „The Golden Age“:
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