34 Jahre brauchte es, bis erstmals eine Frau den mit 250.000 Euro dotierten Ernst von Siemens Musikpreis in Empfang nehmen durfte (Anne-Sophie Mutter 2008) ‒ und weitere elf Jahre, bis wieder eine Frau an der Reihe war: die englische Komponistin Rebecca Saunders. Damals, im Jahr 2019, war die Überraschung groß, denn während Anne-Sophie Mutter als Geigerin weltbekannt war und für die Jury eine sichere Bank, war Saunders auch mit 51 Jahren eher in den Neue-Musik-Zirkeln und für wagemutige Konzertveranstalter ein Begriff. Das lag sicher daran, dass die in Berlin lebende Komponistin nie der charismatische Promoter-Typ nach Art der Siemens-Preisträger Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel oder Wolfgang Rihm (ihres Lehrers in Karlsruhe) war und auch nicht den bürgerlichen Musikbetrieb herausgefordert hat wie Helmut Lachenmann. Rebecca Saunders entwirft eher stille, hochkonzentrierte, fast hermetische Musikwelten, in denen es nicht um Bekenntnisse und Botschaften geht, sondern vor allem um das geschärfte Hören von Klängen, oft am Rand des Nichts. Gewöhnlich brütet sie ihre Klangabenteuer nicht allein für sich am Schreibtisch aus, sondern in unzähligen Experimentierphasen mit den Musizierenden. Die so entstehenden „Module“ werden von ihr zu Stücken zusammengesetzt, variiert oder in größeren Zyklen weiterentwickelt.
„Musik oder Nichts“, der Titel des aktuellen Festivals „Acht Brücken“ in Köln, ist direkt auf die Musik von Rebecca Saunders zugeschnitten. Hier kann man zwischen dem 28. April und dem 7. Mai die Polyfonie von 2464 Spieluhren erleben, die sie auf eine Plexiglas-Wand montiert hat. Zur Uraufführung kommt das letzte Stück eines Triptychons für Ensemble und Solisten und ihre Raumperformance Void. Unser Gespräch fand statt anlässlich der Kölner Pres-sekonferenz über „Musik oder Nichts“.
Ihre Stücke erklingen beim Kölner Festival an ganz verschiedenen Orten: in der Philharmonie, in der Kunstkirche St. Peter oder in den Sartory-Sälen, die vor allem für ihre Karnevalssitzungen beliebt sind. Sie scheinen also durch-aus offen zu sein für ausgefallene Räume …
Rebecca Saunders: Oh ja, ich habe mal in einem Industriegelände in Tirol ein Stück aufgestellt oder 2003 in der Tate Modern in London. Damals standen Skulpturen von Henry Moore in diesem unfassbar großen Raum. Da habe ich die 35 Spieluhren für meine erste Version von Chroma aufgestellt. Das war alles super imperfekt, die ganze Zeit hat man das tiefe Brummen einer Turbine gehört, die damals noch lief.
Spieluhren tauchen ja in Ihren Stücken immer wieder auf, 2015 haben Sie für ein Festival in China mehr als 2.000 Spieldosen an eine Plexiglaswand geklebt, die jetzt auch in Köln zu sehen sind. Sind diese „music boxes“ für Sie einfach interessante Klangerzeuger ‒ oder steckt dahinter auch eine private Botschaft von Rebecca Saunders?
Saunders: Ich glaube, für fast alle Menschen bedeutet eine Spieldose etwas ganz Intimes. Ich habe sie zum ersten Mal 1997 in meinem Orchesterstück „G And E On A“ eingesetzt. Da mussten die Musiker kleine Fragmente spielen, und schon zur zweiten Probe haben viele ihre eigene Spieldose mitgebracht, sie fühlten sich davon persönlich angesprochen. Irgendwann habe ich die Spieldosen für mich abgehakt und sie durch andere, Collage-artige Musikzustände ersetzt. Dann kam der Auftrag für die „Bi-City Biennale“ in China. Es gab in diesem Industrieraum sehr viel Platz, und deshalb habe ich mit Martin Rein-Cano von Topotek 1 diese riesige Wand entworfen. Die Spieldosen kamen aus Südchina, aber mittlerweile haben wir viele ersetzt, die den Transport nach Europa nicht überstanden haben.
Neben der Spieldosen-Installation, die auch live „bespielt“ wird, gibt es mehrere Konzerte mit Mitgliedern vom Ensemble Modern und dem Ensemble Musikfabrik, die Sie seit Jahrzehnten kennen. Wie funktioniert mit ihnen der Prozess der Klangfindung?
Saunders: Die enge Beziehung zu Musikern ist ja nichts Neues oder Ungewöhnliches, das gibt es seit Jahrhunderten. Für mich ist es immer eine Inspiration, Musiker zu betrachten: wie sie spielen, was sie spielen, und welche Klänge ich davon mitnehmen kann. Denn hinter jedem Klang ist ein Mensch und ein Körper, der diesen Klang erzeugt. Und es ist nicht nur wichtig, Spaß daran zu haben, sondern ich will diesen Klang auch kompositorisch weiterentwickeln. Deshalb bespreche ich mit den Musikern auch die Notation. Mir ist sehr wichtig, dass die Notation alles sagt, dass sie extrem präzise ist, dass ein Musiker aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung heraus gleich weiterarbeiten kann. Also: Die Musiker sind der Schlüssel.
Beim Kölner Festival erklingen an einem Abend zwei Ihrer Hauptwerke aus den vergangenen Jahren: „Skin“ für Sopran und Ensemble und „Scar“ für fünfzehn Solisten und Dirigenten ‒ danach folgt die Uraufführung von „Skull“ für Ensemble. Was verbindet diese Stücke?
Saunders: Ich sehe sie als Teile eines Triptychons. Dabei ist Skull eine Ergänzung zu den beiden Werken, die früher entstanden sind. Wie geht man damit um, gibt es dafür eine formale und auch eine „finale“ Lösung? Was ist die Antwort auf die Fragen der ersten beiden Werke? Zum Beispiel habe ich in Skin erstmals eine Stimme in einem längeren Stück eingesetzt. Ich habe für das neue Stück entschieden, dass es minutenlang nicht mal ein Mezzoforte gibt, keine harten Akzente, keine Resonanzen. Das sind wirklich kleine, melodische Fragmente. Also habe ich ganz bewusst anders gearbeitet als bei den ersten Stücken.
Was bedeutet ein Festival überhaupt für Sie als Komponistin?
Saunders: Das hat verschiedene Aspekte. Es ist großartig, bei einem Festival wie „Acht Brücken“ die Stadt zu erkunden. Hier werden die Stücke an ganz unterschiedlichen Orten gespielt, die alle für Köln „sprechen“. Das ist besonders interessant, wenn man räumliche Stücke kreiert, die sich mit unterschiedlichen Architektur-Eigenschaften auseinandersetzten, auch mit nicht-perfekten akustischen Situationen. Das Publikum wird erkennen, dass Musik auch in anderen Situationen wahrnehmbar und hörbar ist. Dazu kommen die Treffen mit den Kollegen. Ich finde das großartig, weil wir Komponisten bekannterweise sehr viel Zeit alleine verbringen. Und der Diskurs untereinander, aber auch mit dem Publikum sollte auch ein Teil eines Musikerdaseins sein. Musik ist ein Diskurs, eine Möglichkeit zu sprechen und zu denken. Auch das ist wichtig in einem Festival.
Diskutieren Komponistinnen und Komponisten überhaupt miteinander?
Saunders: Ich glaube nicht, dass es ein einheitliches Komponisten-Gen gibt (lacht). Wir sind sehr unterschiedlich und arbeiten auf extrem unterschiedliche Art. Aber ich bin jemand, der sich gern mit meinen Kollegen austauscht. In unserer Zeit kämpft nicht mehr die eine Schule gegen eine andere, diesen Hass und die Rechthaberei aus früheren Zeiten gibt es nicht mehr.
Pierre Boulez hat Musik, die er nicht mochte, als „inutile“, als unnütz bezeichnet.
Saunders: Das finde ich unglaublich konservativ und intolerant. Das Großartige an der zeitgenössischen Kunst ist doch gerade Toleranz, sich zu öffnen, neugierig zu bleiben. Heute ist die Diversität von musikalischen Stilen eine enorme Bereicherung. Es geht um Qualität, und es geht um ganz unterschiedliche Art und Weise, mit denen man in der Musik mit der Gegenwart umgeht.
Die Gegenwart ist im Moment sehr turbulent, mittlerweile reagieren auch Kunst und Theater auf die Pandemie, den Krieg in der Ukraine, auf Umweltprobleme. Bei deinen Stücken habe ich eher den Eindruck, dass sie sich mit konkreten Stellungnahmen zurückhalten.
Saunders: Für mich ist es ein Irrtum zu denken: Wenn ich ein Orchesterstück schreibe über die Ukraine, dann ist das die Ukraine ‒ das ist viel zu oberflächlich. Aber wenn man heute Kunst schreibt, setzt man sich automatisch mit der Gegenwart auseinander. Kunst ist tief verankert in unseren sozialpolitischen, wirtschaftlichen Krisen. Und ich finde, dass meine letzten Werke extrem dicht, laut, turbulent geworden sind. Meine letzten drei Stücke sind Monologe, die schreiend aus der jetzigen Zeit sprechen ‒ warum, weiß ich nicht, weil ich nicht selbst in der Lage bin, diese direkten Bezüge herzustellen. Das ist auch nicht meine Aufgabe. Aber wenn man mit dem gesprochenen Wort arbeitet, mit Theater, mit Installation oder Abbildungen ‒ dann ist es viel direkter, als wenn man konkret ein politisches oder soziales Thema ansprechen würde.
Zum Beispiel das Thema „Wokeness“ …
Saunders: Ein fürchterliches Wort, das ist so schwammig und eigentlich mehr eine Beleidigung als eine Definition von etwas. Andererseits muss man Themen aus der öffentlichen Diskussion in die Kunst aufnehmen und sich dabei auch mal die Hände schmutzig machen. Das ist unangenehm, aber notwendig.
Sie arbeiten gerade ein Ihrer ersten Oper. Wohin hat sich Ihre Musik in den letzten Jahren entwickelt?
Saunders: Die Werke sind größer, dichter und lauter geworden. Ich arbeite mit viel längeren Formen als früher. Meine jüngsten Werke dauern vierzig Minuten, ich arbeite da in ganz anderen Strukturen und Kompositionsprozessen. Das bringt eine ganz andere Expressivität zum Vorschein. Ich beschäftige mich sehr viel mit Wut, mit Gewalt, mit Sex. Und ich arbeite immer mehr mit Stimme, damit kann ich eine ganz andere Expressivität oder Emotionalität in der Musik erreichen. Das ist mir sehr wichtig. Als ich jünger war, habe ich versucht, das zu unterdrücken. Aber jetzt, wo ich älter bin, ist es mir egal, da kann man das ruhig zelebrieren. Ich glaube, meine Musik wird sinnlicher.