Zur Regeneration sitzt Sarah Maria Sun gern im trendigen Café „Tante Leuk“ in der Dresdner Neustadt und kaut „den besten veganen Kuchen der Stadt“ – wenn das einstige Gitarrenwunderkind nicht gerade Werbung für die Veganerpartei macht, in der Semperoper singt oder im Studio ein Album aufnimmt. Gerade erst ist Messiaens Liebesliederzyklus „Harawi“ herausgekommen – ein Meisterwerk des Surrealismus, von der 41-jährigen Sopranistin und Neue-Musik-Spezialistin kongenial interpretiert. Dabei vereint nicht jeder Musiker die Attribute blitzgescheit und hochemotional in einer Person. Ein Gespräch über moderne Stücke, introvertierte Komponisten – und natürlich Olivier Messiaen.
Wie kommt man dazu, besonders gern Neue Musik zu singen?
Sarah Maria Sun: Die Wahrheit ist: Ich kann es nicht wirklich sagen. Es gibt mir einen Kick, den ich bei Mozart zum Beispiel nie gespürt habe.
Den Sie aber auch singen.
Sun: Ich habe ja ganz klassisch Gitarre und danach Gesang studiert. Alles ab „Elektra“ war für mich immer am interessantesten. Gleichwohl freue ich mich auch, die klassische Literatur zu singen, schon allein deswegen, weil man dadurch im Stimmtraining bleibt. Die Neue Musik zitiert auch ständig das, was war. Daher braucht sie sehr viele Gesangstechniken, über die ich verfügen können muss.
Vielleicht schrecken viele Kollegen vor Neuer Musik zurück, weil sie die Partien nicht lesen oder sie sich nicht merken können.
Sun: Mir fällt es durch die Erfahrung leichter. Wenn man ein Werk gründlich studieren will, muss man trotzdem sehr viel Zeit investieren. Neulich habe ich ein Programm mit zwölf Stücken aus verschiedenen Epochen studiert, dafür brauchte ich fünfzig bis sechzig Arbeitsstunden. Für eine Uraufführung, die sechs Minuten dauerte, habe ich allein dreißig Stunden gelernt. Ohne absolutes Gehör muss ich mir jedes Intervall, jeden Ton, jeden Bezug erarbeiten.
Man hat ja auch nicht nur mit Tönen zu tun.
Sun: Der Geräuschanteil ist gewachsen, weil es seit 1945 andere Ziele für Komponisten gab. Man wollte näher an die Psyche herankommen, an das Naturell, den Menschen, an das Ich, das Nicht-Ich. Es sollte kein idealisierter Klang entstehen, sondern der Mensch in all seinen Facetten zum Klingen gebracht werden. So wurden auf andere Art Geschichten erzählt – mit Raum für Assoziationen.
Sind die neuen Stilistiken, die nach 1945 entstanden sind, nicht selbst schon Geschichte, über die die Zeit schon hinweggegangen ist?
Sun: In den Frontallappen sitzt das assoziative Denken. Deswegen kann der Mensch gar nicht anders, als ständig kreativ zu sein. Das ganze Gerede, in der Musik sei alles schon erfunden und die Geschichte am Ende, ist völliger Quatsch. Viele Komponisten beschäftigen sich mit verschiedenen Stilen und bauen daraus ihre eigenen Strukturen, Inhalte und kontextuelle Bögen mit eigener unbedingter Logik. Wenn sie begabt sind.
Wer ist Ihnen da im Moment am nächsten?
Sun: Favoriten gibt es eigentlich keine. Jedes Jahr mache ich zwanzig bis dreißig neue Stücke, meist von unterschiedlichen Leuten. Es gibt immer wieder tolle Sachen, die etwas zu sagen haben. Die Form oder die Neuartigkeit ist dabei nicht entscheidend. Stringente musikalische Ideen sind spannend.
Sehen Sie sich als Dienerin des Schöpfers?
Sun: Nein, ich schöpfe ja mit. Stünde dort jemand anderes auf der Bühne, würde es auch anders klingen. Nur wenn ich gut recherchiert habe und alles zur Verfügung stellen kann und es so reich wie möglich mache, dann ist es richtig.
Sie haben gerade den Zyklus „Harawi“ von Olivier Messiaen aufgenommen. Was bedeutet er Ihnen?
Sun: Der frühe Messiaen vermag extrem weite spirituelle Dimensionen in Musik zu fassen, ohne dass er dabei in irgendeine Ideologie verfällt. Die späteren Werke sind sehr vom Katholizismus geprägt, das ist mir manchmal ein bisschen zu viel. Die Metaphern in seinen eigenen Gedichten sind unglaublich schön. Mancher bezeichnet sie als die schönste Dichtung des Surrealismus. Die Formen und Inhalte bleiben immer offen, es gibt keine Doktrin oder Moral, auch keinen Kitsch wie in anderer Liebeslyrik. Messiaen will nie erzählen, was die Personen, die sich zwar gegenseitig lieben, jedoch nicht zueinander kommen können, voneinander erwarten.
Sind Sie eine Musikarchäologin?
Sun: Natürlich will ich Sachen kapieren. Jeder Mensch ist ja beschränkt, weil er sich nur in routinierten Bahnen bewegt. Wann erfährt man schon etwas Neues? Es ist mein Glück, dass ich ständig Komponisten treffe, von denen jeder ein eigenes Universum an Wissen und Erfahrung einbringt. Mit jedem kommuniziere ich vor einer Uraufführung, um zu erfahren, was er sagen will. Ich darf dann alles wie ein Schwamm aufsaugen und meinen Horizont immer wieder erweitern. Dafür bin ich jeden Tag dankbar. Ich habe noch nicht einen einzigen Komponisten getroffen, der sich nicht über sein Stück oder Stückchen einen großen Kopf gemacht und mir stundenlang interessante Sachen darüber hätte erzählen können, ganz unabhängig übrigens von der künstlerischen Qualität.
Wie erleben Sie die Komponisten?
Sun: Im Vergleich zu Bühnenmenschen wie mir sind sie eher introvertiert. Wenn man mit ihnen aber über das spricht, was sie produziert haben, blühen sie auf. Sie wollen nicht jedem ihr Ich aufdrängen. Ich betrachte erst mal jeden Menschen als rätselhaft. Die mir am nächsten stehen, sind mir oft am rätselhaftesten. Je unterschiedlicher und eigenwilliger sie sind, desto spannender. Künstler machen sich allgemein viele Gedanken, sie sind Sensibelchen.
Sind Sie ungeduldig Kollegen gegenüber?
Sun: Man sagt sich viel. Ich hatte das Glück, sieben Jahre bei den Vokalsolisten mitzuwirken. Ohne Dirigent herrscht stetig Austausch, dabei haben wir sehr viel voneinander gelernt. Ich empfinde mich immer als Kammermusiker. Jeder ist für mich eine gleichberechtigte Figur. Wenn ich mit der nicht reden kann, läuft etwas falsch.
An Ihnen kann man wunderbar jede Theorie familiärer Prädispositionen widerlegen: Sie sind auf einem Bauernhof im Ruhrpott aufgewachsen. Haben Sie von vornherein eine andere Sicht auf die Dinge als die Klischee-Wunderkinder, die häufig auf dem Flügel geboren und im Orchestergraben aufgewachsen sein wollen?
Sun: Ich hatte in der Tat eine Traumkindheit auf dem Bauernhof mit allem, was dazugehört – inklusive einer richtigen Großfamilie. Meine Eltern sind sehr bodenständige, soziale Menschen. Mit dem, was ich mache, können sie so gar nichts anfangen, kommen auch sehr selten zu meinen Konzerten. Aber sie sind sehr stolz auf mich und freuen sich sehr für mich. Egal, was ich gemacht habe – sie haben mich immer unterstützt.
Ihre Gesangstechnik reicht von Mehrtönigkeit über eingeatmetes Singen bis hin zu Geräuschen. Ist diese Vielfalt Ihr Spezialgebiet?
Sun: Natürlich kann ich nicht alles in gleicher Qualität. Bisher hat es immer gut gereicht. Ich bin die Meisterin des Nichtkönnens.
Sie lächeln. Also sind Sie sich der Koketterie bewusst.
Sun: Vielleicht ist mein Spezialgebiet wirklich eher eine überraschende emotionale Bandbreite von Klängen. Ich kann gut interpretieren, abstrakte Vorschriften in Botschaften umsetzen.
Wirkliches Erkennen und Transportieren.
Sun: Ja, es ist keine Masturbation, die anderen sollen auch Spaß haben.
Findet man in jedem Stück die tiefere Dimension? Gibt es manchmal erst gar keine?
Sun: Vielleicht verleiht man dem Stück dann trotzdem eine?
Das Schöpferische in der Unschöpfung?
Sun: Das wäre dann „advanced singing“.
Sarah Maria Sun sing Olivier Messiaen: