Nach dem Tod von Mariss Jansons vor bald vier Jahren folgte eine lange Findungsphase für das BR-Symphonieorchester. Die ist nun zu Ende, Chef des Klangkörpers von Weltrang wird mit Simon Rattle nun ein Dirigent von Weltrang.
Zum Antritt beim BRSO hat man Ihnen ein T-Shirt mit Dialektausdrücken geschenkt. Welcher Audruck passt am besten zu Ihnen?
Simon Rattle: Oh! Das T-Shirt? Das war wirklich sehr liebevoll. Aber ich habe absolut keine Idee, was das alles auf Bayrisch heißt. Darf ich im Liverpooler Dialekt antworten? „Lobscouse“.
Jetzt komme ich nicht weiter.
Rattle: Lobscouse ist ein traditioneller seemännischer Eintopf, ähnlich wie das deutsche Labskaus. Und das Wort Scouse meint eigentlich einen englischen Dialekt, der besonders in meiner Heimatstadt Liverpool gesprochen wird. Ich bin also ein Scouser. Doch ich nehme mir jetzt ernsthaft vor, a little more Bayrisch zu lernen.
Fangen wir mit dem sinfonischen „Hoagascht“ an …
Rattle: … Ein weiteres Wort, welches ich jeden Tag versuche beim Frühstück zu üben …
„Hoagascht“ ist eine Art zwangloses Musikanten-Treffen. Und in diesem Fall: Blasmusik trifft auf BRSO. Eine Idee von Ihnen?
Rattle: Ja! Denn in Bayern geht es nicht ohne Blasmusik …
… und ohne Schlagzeuger, der Sie mal selbst einer waren.
Rattle: Da wo ich herkomme, gibt es eine große Brassband-Tradition. Als Teenager trat ich als Perkussionist im Merseyside Youth Orchestra und in großen Blaskapellen Englands auf. Als neuer Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks möchte ich Land und Leute kennenlernen. Über hundert Blasmusik-Ensembles aus allen Regionen haben sich auf unseren Aufruf hin beworben, für die ich großen Respekt empfinde. Was für ein hohes Niveau! Und so viel Herz beim Musizieren! Ich freue mich so darauf, wenn wir uns alle beim Hoagascht treffen. Es gibt doch nichts Schöneres, als nach draußen zu gehen und mit Menschen Musik zu machen.
Einen weiteren Schwerpunkt werden Sie, wie es heißt, auch auf die Barockmusik legen.
Rattle: Ja, wir planen für die weitere Zukunft im Orchester eine Originalklang-Werkstatt mit historischen Instrumenten. Das Wichtigste für ein Orchester ist, dass es so viele Farben hat wie möglich.
Die Saison starten Sie mit Haydns „Schöpfung“, zu dessen Werk Sie große Affinität haben. Der EMI-Musikproduzent Walter Legge prüfte die Qualifikation eines Dirigenten daran, wie dieser einen langsamen Satz aus einer Haydn-Sinfonie dirigierte.
Rattle: Aha! Das ist ja interessant. Da kann ich nur sagen, Haydn ist schwierig zu interpretieren. Reinste Musik, sehr einfach und doch sehr kompliziert. Auf die Frage, welche Musik ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde, dann wäre es genau dieses Werk. Haydns Musik macht glücklich. Sie klingt ein bisschen wie die Schöpfung eines ganzen Orchesters.
Ihre ersten Dirigier-Versuche starteten Sie als kleiner Junge mit Musik von „einer dieser Platten aus der Reihe ,Music for frustrated Conductors‘“, schreiben Sie in Ihrer Biografie.
Rattle: Oh, ich erinnere mich noch sehr gut an den „Säbeltanz“ von Chatschaturjan auf dieser Schallplatten-Box, zu der auch ein Taktstock mitgeliefert wurde. Sehr, sehr gefährlich und verführerisch in diesem Alter…
Auf dem Cover der Plattenbox war die Karikatur eines Dirigenten abgebildet mit fliegendem Frack vor einem kleinen Spiegel. Wie würden Sie sich denn selbst zeichnen?
Rattle: Haar! Nur Haar. Viele fragen mich nach meiner Frisur. Riccardo Muti fragte, wieviel sie mich kostet, und wir witzelten über mein „permanente naturale“ (natürliche Dauerwelle). Ich stellte ihm eine solche Frage natürlich nicht.
Emmanuel Macron gibt 8.000 Euro für seinen Friseur aus. Monatlich.
Rattle: Nur so wenig? Manche haben eben goldenes Haar.
Nun zu einer ernsten Frage: Inwiefern hat Ihre an Autismus erkrankte Schwester Ihr Weltbild und Ihr Musikempfinden geprägt?
Rattle: Autismus habe ich nie als Handicap empfunden, sondern als Superpower! Meine Schwester Susan war körperlich eingeschränkt, aber sie hatte ein unglaubliches Gedächtnis, konnte sich alles merken. Sie hat mir so vieles vermittelt, mir, dem neun Jahre jüngeren Bruder. Ich glaube, ich verdanke ihr auch meine intensive Liebe zur Musik. Sie entwickelte sich von klein an absolut natürlich, ich entdeckte mit ihr so viel. Es war ein großes Privileg, sie an meiner Seite haben zu dürfen. Leider lebt sie nicht mehr. Erst mit den Jahren erkannte ich, wie sehr Susan mich beeinflusst hat. Bei jedem Quiz, und war es noch so anspruchsvoll, konnte sie jede Frage beantworten.
„Mit fünfzehn strebte ich nach Wissen“, sagt Konfuzius.
Rattle: Absolut. Susan brachte Bücher und Platten aus der Bibliothek nach Hause. Jazz und Musik des 20. Jahrhunderts. Ich musste einfach alles wissen, erinnere mich an die grüne Ausgabe von Berlioz’ „Grand Traité d’instrumentation“. Da war ich wohl erst sieben Jahre alt.
Gleichzeitig bewiesen Sie als Teenager Unternehmergeist. Für eine Benefizveranstaltung trommelten Sie in fünf Wochen ein Sinfonieorchester zusammen, bestehend aus Schulfreunden und Profis der Liverpooler Philharmonic.
Rattle: Die waren wohl über meine Frechheit so überrascht, dass sie sofort zusagten. Und auch Chefdirigent Charles Groves war im Publikum, als ich da Schuberts „Unvollendete“ dirigierte. Von den Liverpooler Phils habe ich gelernt, wie Musik klingt. Bereits als Zehnjähriger war ich bei Proben dabei, diskutierte in kurzen Hosen hinter der Bühne intensiv, besessen mit den Musikern. Ich war schon ein ziemlich merkwürdiges Kind – würde ich aus heutiger Sicht sagen.
Mit 24 Jahren wurden Sie Chefdirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra, mit 32 erhielten Sie den Orden „Commander of the British Empire“. „Mit dreißig war ich in mir selbst gefestigt“, sagt Konfuzius. War das wirklich so?
Rattle: Es waren Jahre großer Energie, großen Ehrgeizes, großer Besessenheit, aber man erkennt nicht immer so genau die Beweggründe und Zusammenhänge, entscheidet nicht immer bewusst und gezielt. Erst im Nachhinein wundert man sich, wie schnell alles ging und an einem vorbeigerast ist. Vieles ergibt sich, anderes nicht.
Birmingham, London, München. Überall haben Sie für einen Konzertsaal gekämpft. Wenn Sie Ihre Argumente über die Jahrzehnte vergleichen würden: Gibt es Unterschiede?
Rattle: Das ist interessant. In Birmingham habe ich nicht gekämpft. Es war eine besondere Zeit. Die Stadt wollte sich neu erfinden, auch kulturell. Damals verstanden wir uns noch mehr als Europäer und Europa stellte auch Geld zur Verfügung für dieses besondere Kulturzentrum. In London und München hingegen kam ich bereits in einen schon vorhandenen Diskurs hinein. Es war klar, dass das Barbican Centre Limitationen hatte und London einen neuen Saal brauchte. Und auch in München hatte bereits mein Vorgänger Mariss Jansons sehr um einen neuen Konzertsaal gekämpft. Es gibt ein Grundstück für das Konzerthaus und einen Vertrag mit dem Eigentümer, der sogar das Wort „Konzerthaus“ enthält. Und trotzdem heißt es, wir können nicht damit beginnen, weil wir noch überlegen und planen müssen. Das kommt mir als Außenstehender seltsam vor. Vielleicht laufen die Dinge in Bayern langsamer als anderswo.
„Mit fünfzig kannte ich den Willen des Himmels“, sagt Konfuzius. Sie wurden mit 47 Jahren Chef der Berliner Philharmoniker.
Rattle: Lassen Sie es mich so sagen: Ich glaube nicht, dass diese Entscheidung der Wille des Himmels war. Allerdings war es eine ganz besondere Position. Ich liebte sie, aber sie war sehr herausfordernd. Berlin und München sind zwei sehr unterschiedliche Welten. Und wenn wir auf Konfuzius zurückkommen: Mit etwa fünfzehn Jahren hörte ich in Liverpool zum ersten Mal das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Rafael Kubelik mit Beethovens Neunter. Das hat mein Leben verändert. Und ich bin so glücklich, dass ich gegen Ende meiner Karriere wieder zurückkomme.
„Mit sechzig hatte ich ein feines Gehör, um das Gute und das Böse, das Wahre und das Falsche herauszuhören“. Gibt es noch Menschen, die sich trauen, Ihnen die Wahrheit zu sagen?
Rattle: Oh? Einige, Gott sei Dank! Darauf muss man wirklich achten. Das ist wirklich wichtig.
„Mit 70 …“, sagt Konfuzius … Sorry, so alt sind Sie ja noch gar nicht!
Rattle: Ich sehe sie aber schon … die Jahre.