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Interview Stéphane Denève

„Qualität muss Popularität nicht ausschließen“

Stéphane Denève über seine Liebe zu gutem Essen, neue Freiheiten in der heutigen Musik – und Dirigententräume

vonFrank Armbruster,

In Stuttgart zu wohnen kann angenehm sein – jedenfalls wenn man in einer der bevorzugten „Halbhöhenlagen“ residiert wie Stéphane Denève, der Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des Südwestrundfunks (SWR). Aus seiner Wohnung im oberen Stock eines stilvollen Altbaus hat der Dirigent einen herrlichen Blick über die Dächer der Stadt, sogar die Spielstätte seines Ensembles, die Liederhalle, kann er von hier aus sehen. Bis 2016 ist der Franzose noch Chefdirigent in Stuttgart, dann wird das Orchester mit dem SWR-Orchester aus Baden-Baden und Freiburg fusioniert – für Denève ein merklich unangenehmes Thema, über das er sich nicht unterhalten möchte. Schade, aber es gibt ja auch noch andere Themen.

Herr Denève, kochen Sie?

Leider nicht. Ich liebe gutes Essen, aber meine Frau kocht sehr, sehr gut.

Wie wichtig ist gutes Essen für Sie?

Es ist für mich schwer zu sagen, was mir am wichtigsten ist: Liebe, Musik oder Essen. Ich reise ja sehr viel, und die Attraktivität einer Stadt hängt sehr davon ab, ob ich dort ein gutes Restaurant finde.

Muss man ein rundum sinnlicher Mensch sein, um ein guter Dirigent zu sein, speziell bei französischer Musik?

Mein Motto dazu stammt von Baudelaire, aus dem Gedicht Correspondances: „Les parfums, les couleurs et les sons se répondent“ – Farben, Düfte und Klänge gehören zusammen, das ist genau das, was ich empfinde. Auf einer Orchesterprobe arbeite ich deshalb immer mit sinnlichen Vergleichen: Bei Debussy oder Ravel etwa male ich die Musik mehr, als dass ich einen rhythmischen Puls dirigiere.

Und wie ist die belgische Küche? Sie werden ja nächstes Jahr in Brüssel Chefdirigent.

Brüssel, das ist fast wie ein Zuhause für mich. Ich bin an der französisch-belgischen Grenze geboren, mein Name ist belgisch, eigentlich bin ich fast Belgier. Und die Küche mag ich sehr, vor allem das Filet americain, eine Art Steak tatar.

Wie sehen Ihre Pläne mit dem Brüsseler Orchester aus?

Es gibt ein sehr interessantes Projekt dort, genannt CFFOR, Centre for Futur Orchestral Repertoire. Wir werden eine Website aufbauen mit Statistiken darüber, welche zeitgenössischen Stücke wie oft und wo aufgeführt wurden. In diesem Kontext werde ich bei jedem Orchesterkonzert mindestens ein Werk des 21. Jahrhunderts aufführen – und zwar nur solche, die meiner Meinung nach eine Chance haben, Repertoirewerk zu werden. Denn es gibt da ein Loch: Seit Schostakowitsch, Britten und Poulenc haben wir keine wirklich populären Werke mehr.

Viele Avantgardekomponisten scheinen aber der Ansicht zu sein, dass nicht gut sein kann, was vielen gefällt.

Hohe Qualität muss Popularität nicht ausschließen. Hier in Stuttgart haben wir vor kurzem mit dem Radio-Sinfonieorchester John Adams‘ Doctor Atomic Symphony aufgeführt. Das war ein großer Erfolg, die Leute waren völlig begeistert, manche haben geweint. Oder nehmen Sie Jennifer Higdons Blue Cathedral, das wir ebenfalls gespielt haben: Hier in Deutschland kennt es kaum jemand, aber seit 2000 wurde es auf der Welt 570-mal mit 290 verschiedenen Orchestern aufgeführt. Auf der anderen Seite ist es so, dass in Amerika etwa kaum jemand Detlev Glanert kennt, dessen Werke immerhin schon acht oder neun Mal bei den Proms aufgeführt wurden. Das müssen wir ändern.

Angenommen, ein junger Komponist in Deutschland schriebe ein tonales Stück: einen Kompositionspreis würde er damit nicht gewinnen. 

Ja, in Deutschland herrscht diese Art zu denken: ein Stück muss immer ganz neu und anders sein, sonst taugt es nichts. Ich hoffe, dass es immer mehr Komponisten gibt, die nicht nur schreiben, um damit einer bestimmten Richtung zu folgen. Der schottische Komponist James McMiIllan, der zurzeit sehr erfolgreich ist, hat vor Jahren noch in dem typischen Hardcore-Avantgardestil komponiert. Ich habe ihn gefragt, warum er jetzt anders schreibt, viel verständlicher und melodischer. Wissen Sie, was er gesagt hat? „Ich war früher nicht aufrichtig mit mir selbst. Es gab damals so einen Druck, sich anzupassen, damit man akzeptiert wird.“ Heute gibt es viel mehr Freiheit. Zum Glück!

Sie treten schon 2015 Ihre Stelle als Chefdirigent in Brüssel an, Ihr Vertrag in Stuttgart geht aber noch bis 2016, dazu sind sie seit einigen Monaten Erster Gastdirigent in Philadelphia. Schaffen Sie es, das alles unter einen Hut zu bringen?

Oja, warum nicht? Es ist viel Arbeit, aber ich liebe das. Es ist mein Leben.

Bleibt da noch Zeit für Ihre Familie?

Ja, ich bin nie länger als zwei Wochen ohne meine Familie. Wir organisieren das gut, die Familie begleitet mich auch oft auf meinen Reisen.

Als Sie 2011 in Stuttgart anfingen, haben Sie Ihre Begegnung mit dem Orchester als „coup de foudre“ bezeichnet – als „Liebe auf den ersten Blick“. Ist aus der heißen Affäre mittlerweile eine Beziehung geworden?  

Ja, wir sind jetzt verheiratet, der Honeymoon ist vorbei. Die Musiker kennen mich mittlerweile sehr gut und ahnen oft schon vorher, was ich sagen werde. Deswegen muss ich mehr Überraschungen finden, und das ist wirklich eine Aufgabe für mich. Es wird jetzt in den Proben auch mehr diskutiert. Aber wenn wir ein gutes Konzert gemacht haben, dann ist die Energie wieder ganz frisch da – wie ein coup de foudre.

Sie haben ja schon viele Orchester dirigiert. Wenn Sie sich aussuchen dürften, wo Sie Chefdirigent werden könnten, für welches Orchester würden Sie sich entscheiden?

Stimmt, außer den Berliner und den Wiener Philharmonikern habe ich fast alle dirigiert. Aber ganz ehrlich – das mit den berühmten Orchestern ist nicht mehr so wichtig für mich. Was mich viel mehr interessiert, ist die Arbeit mit jungen Komponisten. Mein Vorbild ist dabei Sergei Koussevitzky, der in Boston viele neue Werke angeregt und gefördert hat. Wenn ich später mal auf mein Leben zurückblicke und sagen kann: Diesem oder jenem Meisterwerk hast Du geholfen, bekannt zu werden – dann wäre ich zufrieden.

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