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Interview Sven Helbig

Kein Geschichtsbuch

Ein Interview mit Sven Helbig, der für die Dresdner Musikfestspiele die Musik zum Stummfilm „Luther – ein Film der deutschen Reformation“ von 1927 komponiert hat

vonVerena Fischer-Zernin,

Anlässlich des Reformationsjahres bitten die Dresdner Musikfestspiele zu einem Filmkonzert mit Uraufführung: Sie zeigen den Stummfilm Luther – Ein Film der deutschen Reformation von 1927 (Regie: Hans Kyser). Mit der Musik dazu haben sie Sven Helbig beauftragt. 1968 in Eisenhüttenstadt geboren und dort auch aufgewachsen, lebt der Komponist heute in Dresden.

Herr Helbig, haben Sie schon mal einen Film vertont?

Sven Helbig: Noch nie. Ich beschäftige mich aber sehr viel mit Filmmusik. Es interessiert mich einfach, wie sie gemacht ist. Welches Tempo hat die Szene, wie verbindet sich die Musik mit den Bildern, wo verzichtet man auf Musik?

Wissen Sie schon, welche Fassung des „Luther“-Films Sie vertonen werden?

Helbig: Wir wollen eine restaurierte Schnittfassung zeigen. Der Film ist nach seiner Uraufführung scharf kritisiert worden, besonders die Kirchen fühlten sich schlecht dargestellt und haben erreicht, dass einige Szenen zensiert wurden. Die nehmen wir wieder hinein. Wir werden aber kein reines Archivprogramm zeigen.

Auf heutige Betrachter wirkt der Film in Gestik und Ausstattung reichlich pathetisch und klischeebeladen.

Helbig: Ich finde ihn furchtbar antiquiert. Aber das Übertriebene kann man ganz gut ikonographisch verarbeiten, wenn man sich vom Vorgang löst. Eine große Geste wirkt dann eher wie ein Symbol. Nehmen Sie etwa die Gewitterszene, in der Luther die Arme ausbreitet und die Botschaft empfängt. Die kann man herausschneiden und wiederholen.

Was ist Ihre Maxime bei der Bearbeitung?

Helbig: Fernando Carmena, der Videokünstler, und ich waren uns einig, dass wir zum Kern der Sache vordringen müssen. Die Bilder sind Dokumente aus einer vergangenen Zeit. Sie enthalten aber starke Momente, mit denen wir heute weitererzählen können.

Sven Helbig
Sven Helbig © Claudia Weingart

Wie läuft denn der Kompositionsprozess ab? Bekommen Sie die fertige Fassung vorgesetzt

Helbig: Nein, das ist eine Gemeinschaftsarbeit. Ich bekomme immer mal Kostproben, dann passe ich wieder die Musik an und schicke es zurück.

Sie sind also mittendrin. Wie wird Ihre Filmmusik wohl klingen?

Helbig: Meine Musik ist nicht für Spezialisten komponiert. Sie ist auf den ersten Blick einfach nachzuvollziehen. Ganz im Sinne Luthers. Wir bewegen uns heute mit unseren Fähigkeiten und Erkenntnissen oft nur in den eigenen Kreisen, Musiker machen Musik für die Kollegen. Nur wenige Künstler machen es sich zur Aufgabe, ihre Erkenntnisse in die Breite zu geben, in der Sprache, die man ohne Spezialisierung versteht.

Sie schreiben für Chor, Orchester und Elektronik. Wie setzen Sie das Instrumentarium ein?

Helbig: Ich versuche, eine moderne, diverse Erlebniswelt zu schaffen, statt Instrumente bestimmten Komplexen zuzuordnen. Das klassische Orchester steht nicht für das zu Überwindende und die Elektronik nicht für den Fortschritt. Das wäre zu einfach.

Komponieren Sie tonal?

Helbig: Auf jeden Fall! Durch die Mischung von Orchester, Chor und Elektronik klingt die Musik trotzdem neu. Wir wollen Luther aus heutiger Sicht erzählen und kein Geschichtslehrbuch auf die Bühne stellen.

Was reizt Sie an Luther?

Helbig: Mich interessiert nicht, was er 1517 getan hat. Mich interessiert, dass jemand aufsteht und sagt: Ich mach das nicht mehr mit. Wenn wir die Geschichte von Luther heute erzählen wollen, müssen wir von einem Menschen erzählen, der die selbstverständlichsten Dinge hinterfragt. Die Gedankenlosigkeit, mit der wir leben, wird größer.

Wenn wir an Konsumentscheidungen denken – die halten viele Menschen für Privatsache.

Helbig: Wir haben heute einen völlig falschen Begriff von Privatheit. Es ist nicht privat, was ich für ein Auto fahre. Der Benzinverbrauch, die Bedingungen, unter denen die Materialien verarbeitet und eingesetzt werden – das alles hat sehr große Auswirkungen auf die Allgemeinheit. Die Konsequenzen müssen wir dann wieder gemeinsam tragen.

Das war zu Luthers Zeiten im Grunde auch so.

Helbig: Die Frage ist, was es heute zu reformieren gäbe und wie wir die Kraft dafür gewinnen wollen. Das Konzert muss uns dieser Frage näher bringen. Wenn das nicht gelingt, ist es überflüssig.

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