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Interview Thomas Adès

„Mir hat die poetische Aura gefallen“

Komponist und Dirigent Thomas Adès über seine anstehende Uraufführung, seine Leidenschaft für Tschaikowsky und über Gefühlsausbrüche beim Komponieren.

vonRoland H. Dippel,

Vor einigen Wochen stand er er zum ersten Mal am Pult der Wiener Philharmoniker. Seine Orchesterwerke und Kammerstücke sind bei Musikern trotz ihrer mitunter exorbitanten Anforderungen so beliebt wie beim Publikum. Und seine drei Opern werden international regelmäßig gespielt. Bei den Dresdner Musikfestspielen bringt Thomas Adès ein Auftragswerk zur Uraufführung.

Thomas Adès, Ihre Werke werden überall in Deutschland gespielt. Warum haben Sie mit einem Dresden-Besuch so lange gewartet?

Thomas Adès: Das ist Zufall. Ich folge immer recht spontan und geradlinig den Einladungen zu Aufführungen meiner Werke und ans Dirigentenpult. Kurz vor Corona spielte das Gewandhausorchester mein vom Boston Symphony Orchestra uraufgeführtes neues Klavierkonzert. Umso mehr freue ich mich über die Einladung der Dresdner Musikfestspiele und deren Kompositionsauftrag.

Das neue Stück ist eine Suite nach Ihrer Shakespeare-Oper „The Tempest“, darauf folgt Ihr Klavierkonzert „In Seven Days“. Wie kam es zu dieser Kombination?

Adès: Das Konzert war schon länger geplant. Die neue Suite nach der Oper „The Tempest“ spiegelt auch Erfahrungen seit der Uraufführung in Covent Garden 2004 und anderen Produktionen. Während der zwei schrecklichen Pandemie-Jahre saß ich zu Hause und hatte die Zeit, meine älteren Kompositio­nen durchzusehen. Das war ein wichtiger und auch klärender Rückblick. Durch den Zeitabstand gewann ich zu vielen meiner Stücke eine andere Beziehung. Zu den beiden Werken des Dresdner Konzerts habe ich heute noch immer eine positive Haltung.

Für eine Suite nach einem größeren Werk gibt es unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten. Wie gingen Sie vor?

Adès: Ich vermute, Sie denken jetzt an die Möglichkeiten eines Potpourris, was eine Folge der vom Publikum am meisten geschätzten oder meiner eigenen Lieblingsmomente aus der Oper wäre. Eine andere Möglichkeit ist die Veränderung und Neuverarbeitung des musikalischen Materials mit sinfonischen Mitteln. Ich verbinde beide Gestaltungsprinzipien, habe alle Gesangsstimmen der verwendeten Szenen in den Orchestersatz eingefügt und auch einige Orchesterpassagen übernommen. Das Publikum sollte das Konzertstück ohne Kenntnis der Oper verstehen können und an diesem Gefallen finden.

Die Pandemie setzt seit zwei Spielzeiten scharfe Zäsuren im Kulturleben. Spüren Sie Auswirkungen auf die Zukunft?

Adès: Wenn ich für größere Besetzungen komponieren durfte, hatte ich bisher immer alle zur Verfügung stehenden Instrumentalpotenziale bis an die Grenzen der Möglichkeiten gefordert. Die Musiker mochten das. Deshalb bestand in den letzten 25 Jahren überhaupt kein Anlass, mir personelle oder künstlerische Sparzwänge aufzuerlegen. Die Tendenz zum Sicherheitsdenken ist momentan nicht nur im Veranstaltungsangebot, sondern auch in der Programmgestaltung überall spürbar. Generell kommen mehr Werke in kleineren Besetzungen zur Aufführung. International kündigt sich eine Wende an. Man hält inzwischen fast alle Ausnahmesitua­tionen für wahrscheinlich, ist auf Überraschungen in letzter Sekunde vorbereitet. Ich überlege derzeit schon bei den aller­ersten Ideen, ob diese auch unter anderen als den vorgesehenen Bedingungen wirken. Das betrifft alle Gattungen.

Thomas Adès tritt auch immer wieder als Dirigent auf
Répétition générale de l’Orchestre de Paris, le 6 novembre 2018, à la Philarmonie. Paris, France.

Haben Sie schon einmal ein eigenes großes Werk für kleinere Besetzung bearbeitet?

Adès: „The Tempest“ kam in San Francisco in einer kleineren Orchesterbesetzung heraus. Das machte mir nichts aus. Aber eine autorisierte, damit vom Verlag vertriebene und für andere Theater verbindliche Fassung war das nicht.

Prospero in „The Tempest“ steht außerhalb der Menschen. Er ist Melancholiker, Komiker, Magier und Rebell. Sind Ihnen diese bipolaren Schwankungen, die auch eine selbstzerstörerische Seite haben können, vertraut?

Adès: In kreativen und künstlerischen Prozessen ist es wichtig, solche Gefühle zuzulassen. Man muss die Freude und die Trauer gleichermaßen umarmen, wenn sie da sind. Es gibt großartige Kunstschöpfungen, in denen Komödien in Tragödien umschlagen und umgekehrt. Diese Gegensätzlichkeit hat für mich eine optimale Ergänzungskraft und steigert meine kreative Energie.

Sind Ihre drei Opern deshalb so unterschiedlich? „Powder Her Face“ ist eine Groteske, „The Tempest“ ein neoromantisches Stück, „The Exterminating Angel“ eine Hommage an den Surrealismus.

Adès: Darüber habe ich nie nachgedacht. Diese Genre-Kontraste in Hinblick auf thematische Ergänzung und Alternativen waren mir gar nicht bewusst. Die Opern entstanden im Abstand von mehreren Jahren. Auf konzentrierter Suche nach einem Opernstoff bin ich nicht. Wenn ich einen geeigneten entdecke, würde ich mich sofort in die Auseinandersetzung stürzen.

Im April wurde Ihr Stück „Märchentänze“ mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra mit Pekka Kuusisto aufgeführt. Warum wählten Sie einen deutschen Titel?

Adès: Die erste Aufführung als Duo mit dem Geiger Pekka Kuusisto und mir fand bereits im Oktober 2021 in der Fondation Louis Vuitton in Paris statt. Mir hat die poetische Aura gefallen, welche im Klang dieses deutschen Wortes und nicht nur in seiner Bedeutung liegt: „Märchentänze“ klingt für mich nach Harmonie, Friede, freiem Leben, Natur … Außerdem wollte ich im Jahr des Brexit damit signalisieren, dass ich Europäer bin.

Seit dem Beginn Ihrer Karriere Mitte der Neunzigerjahre begleiten Sie Attribute wie Farbpracht, Tanz und Virtuosität. Deshalb halte ich einen Titel wie „Märchentänze“ von Ihnen für ungewöhnlich.

Adès: Diese Außenwirkung hat sich mit den Jahren verselbständigt. Das Image lässt sich wohl nur schwer und sehr langsam ändern. Das stört mich nicht, solange es meine Interessen und Ideen nicht fesselt, einengt oder manipuliert.

Thomas Adès: Klassiker oder Provakateur?
Thomas Adés Photo: Marco Borggreve
All rights reserved

Vor Ihnen waren John Adams und Barbara Hannigan in Dresden und erhielten den Glashütte Musik-Preis. Beide sind wie Sie herausragende Repräsentanten der Neuen Musik. Haben Sie mit ihnen schon einmal zusammengearbeitet?

Adès: Obwohl ich seine Oper Nixon in China sehr bewundere, hatte ich bisher leider noch keinen näheren Kontakt zu John Adams. Mit Barbara Hannigan gab es eine sehr beglückende Zusammenarbeit bei der Uraufführung von Gerald Barrys Oper „Alice’s Adventures Under Ground“ in Los Angeles und London 2016. Sie sang die Titel­partie, ich dirigierte.

Sie treten immer wieder als Dirigent auf. Warum entschieden Sie sich für Tschaikowskys Vierte für den Abschluss des Dresdner Konzerts?

Adès: Zum einen erfülle ich mir damit selbst einen großen Wunsch. Ich hatte Tschaikowskys Vierte bisher nur ein einziges Mal dirigiert. Zum anderen halte ich Tschaikowsky als musikalischen Epiker noch immer für unterschätzt. Mir fällt kaum ein anderer Komponist ein, der mit derart leidenschaftlichem Ausdruck musikalische Begebenheiten so stark entwickelt und vorantreibt.

Welche der beiden Ebenen meinen Sie? An der Oberfläche geht es bei Tschaikowsky um Formen, Kolorit und Drama. Dazu kommen heimliche Botschaften über seine Biografie und sehr persönliche Erlebnisse als Schwuler.

Adès: Darüber muss ich jetzt fast lachen. Natürlich gibt es bei Tschaikowsky diese beiden Ebenen und sie sind deutlich hörbar. Aber in seiner Tonsprache werden sie universell. Es geht um Leidenschaft und Sehnsucht. Für alle – in allen Konstellationen.

Letztes Jahr feierten Sie Ihren fünfzigsten Geburtstag. Sie sind schon seit Jahren als Dirigent und Komponist erfolgreich. Sehen Sie sich in Ihrer jetzigen Lebensphase eher als Klassiker oder als Provakateur?

Adès: Das frage ich mich schon seit dreißig Jahren. Als „Powder Her Face“, eine Oper über eine ältere Frau mit sehr lebhaften sinnlichen Bedürfnissen, 1995 herauskam, dachte ich mir: Nichts ist so innovativ wie eine Oper über eine alte Dame. Kurz vor der Pandemie brachte die Oper Magdeburg, wo bereits die deutsche Erstaufführung stattfand, „Powder Her Face“ in einer zweiten Inszenierung heraus. Das gibt mir sehr über den Lauf der Zeit zu denken.

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