Im sonst so noblen Berliner Grunewald nimmt sich das Wohnhaus von Thomas Quasthoff eher bescheiden aus: ein eher karger Neubau mit mehreren Wohnparteien. Der große Charaktersänger öffnet selbst, lädt in die sympathisch unaufgeräumte Küche. Gestört wurde er beim Nachrichtenkonsum, seit seinem selbstgewählten Karriereende hat er mehr Zeit dafür, daheim im Sessel zu sitzen und die Welt aus dieser Perspektive wahrzunehmen, anstatt in Hotels auf den Transfer zum Bühneneingang zu warten. Genug zu tun, betont er gern, habe er immer noch: Die Professur an der Hanns-Eisler-Hochschule fordert ihren Tribut, es warten Sprecherrollen, Bühnenanfragen, Hörbücher. Und Thomas Quasthoff engagiert sich für das Überleben einer stiefmütterlich behandelten Kunstgattung mit einem Liedwettbewerb. Im Februar findet er seit 2009 zum dritten Mal in Berlin statt. Eine Vorausschau.
Das unsterbliche Kunstlied ist im Aussterben begriffen, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Woran liegt das?
Ich glaube nicht daran. Für unseren Wettbewerb hatten wir mehr als 100 Bewerbungen aus der ganzen Welt, das zeigt mir, dass das Interesse weiterhin existiert. Vielleicht müssen wir uns einfach neu besinnen, über neue Präsentationsformen nachzudenken. Die Zeiten, in denen der Protagonist im steifen Frack da oben am Flügel steht und zeigen will, was hehre Kunst ist, sind vorbei. Ein nettes Wort zum Publikum, vielleicht sogar ein oder zwei Stücke erklären – all das spielt eine große Rolle. Und wir brauchen schlicht Sänger, die etwas zu sagen haben; allein schöne Töne zu singen reicht nicht.
Aber es gibt ein klares Defizit: Liederabende verkaufen sich nicht und werden daher kaum einmal ins Programm genommen.
Das hängt auch mit dem Bildungssystem zusammen: Es werden keine Gedichte mehr gelernt, an der Kultur wird gespart. Auch unsere Regierung gibt immer noch mehr Geld für ungewinnbare Kriege und Waffen aus als für Bildung wie überhaupt überall, wo Dienst am Menschen getan wird. Selbst Kindergärtnerinnen lernen in ihrer Ausbildung nicht mal mehr, Lieder zu singen. Auf der anderen Seite gibt es eine gegenläufige Tendenz, dass man erkennt, wie wichtig Singen und Musikmachen für Kopf, Herz, Geist, Seele ist. Das sehe ich gerade bei meiner Tochter, die in ihrem Schulchor große Freude hat.
Sie äußerten kürzlich, das mangelhafte Interesse am Kunstlied sei auch in der Oberflächlichkeit im Klassikbetrieb begründet. Was meinen Sie damit genau?
Mit Verlaub, wenn man meint, Beethoven verpoppen zu müssen, dann tut man der klassischen Musik keinen guten Dienst. Diese Art von Musik ist für mich einfach nur indiskutabler Mist, aber sie steht im Regal unter „Klassik“, was ich eine Katastrophe finde, denn damit hat sie nichts zu tun.
Aber ein David Garrett verkauft sich gut.
Früher war die exklusive Bindung an eine Plattenfirma wie die Deutsche Grammophon eine Auszeichnung. Sie hatten Produzenten, die die Musik liebten, die Spaß daran hatten, vielleicht sogar ungewöhnliche Programme zusammenzustellen. Das gibt es heute alles nicht mehr. Sie können sich gar nicht mehr an die Leute gewöhnen, weil die Fluktuation so hoch ist. Die Firmen kaufen zwar ein, aber das sind meistens Einheitsprogramme, es wird nur danach geschaut, ob es sich verkauft, und es sind auch viel zu viele Künstler. Ehrlich: Wer braucht die hundertfünfzigste Aufnahme von Beethovens Neunter? Weniger ist mehr.
Liegt das nicht daran, dass der Werkekanon immer kleiner wird? Irgendwann ist doch alles aufgenommen, und Neue Musik hat es schwer.
Viele Neutöner haben vom Singen keine Ahnung und schreiben so atonal, dass es eher mit Geräuschen verbunden ist als mit Musik. Nur wenige Gute können Neues schaffen, ich denke da an Jörg Widmann, Detlev Glanert oder Wolfgang Rihm. Wenn man diese Musik gefühlsintensiv singt wie die Romantik, dann kommt das auch gut an, es muss nur eben gut gemacht sein. Und was die älteren Werke angeht, gibt es ja auch wunderbare Protagonisten, die zeigen, dass man auch im 21. Jahrhundert sehr lebendig musizieren kann. Ein Rattle, ein Jansons oder ein René Jacobs – solche Leute können auch live mitreißen.
Sie selbst machten sich insbesondere interpretatorisch einen Namen, eben weil Sie etwas zu sagen hatten. Dann hörten Sie plötzlich auf. Woran lag das?
Das hatte einerseits einen sehr praktischen Grund: Ich verlor vor anderthalb Jahren meinen Bruder, der mit 52 Jahren an Lungenkrebs starb. Wir hatten ein sehr enges, außergewöhnlich inniges, geradezu symbiotisches Verhältnis, drei Bücher zusammen geschrieben, zusammen Musik gemacht, ich war oft zu Gast in seinem literarischen Kreis in Hannover. Entsprechend groß war der Schock in meinem Leben. Ich verlor die Stimme und konnte ein Dreivierteljahr nicht sprechen. Dann machte ich es mir zur Maxime, dass ich nur dann wieder anfange, wenn ich nach meinem Geschmack bei 100 Prozent meiner Leistungsfähigkeit wieder einsteigen kann. Das war nicht der Fall. Zweitens hatte ich auch keine Lust mehr, 200 Tage unterwegs zu sein und 80 Konzerte im Jahr zu geben, das ist physisch sehr anstrengend, zumal für einen körperlich schwer Behinderten, das darf man nicht vergessen. Und drittens wollte ich immer den Punkt finden, so rechtzeitig aufzuhören, dass die Leute immer noch sagen: schade. Und darauf bin ich sehr stolz, zumal ich im Musikgeschäft Kollegen sehe, die irrtümlicherweise glauben, sie seien immer noch so gut wie vor zehn Jahren. Das wollte ich für mich vermeiden.
Sie fallen aber in kein Loch.
Keinesfalls! Ich habe meine Professur, ich spiele Theater, demnächst auch Kabarett, ich werde Schönbergs „Gurrelieder“ sprechen, eine Kinderoper machen, es gibt eine CD-Aufnahme von Mozarts „Entführung“, bei der ich den Bassa Selim sprechen werde, Hörbuchanfragen, es gibt so viel zu tun!
Haben Sie Heimweh nach der Bühne?
Überhaupt nicht nach der, auf der ich zu Hause war. Und außerdem spiele ich ja jetzt Theater, zum Beispiel den Narren in Katharina Thalbachs Inszenierung von „Was ihr wollt“ im Berliner Ensemble. Ich kann es mir doch aussuchen!
Und nach dem Singen?
Mit meinen Studenten singe ich jeden Tag in der Hochschule. Zu sehen, dass das immer noch ganz gut geht, ist auch ganz schön, aber ich muss das nicht mehr öffentlich machen.
Ist die Rückkehr des Singens in die Familie, wie Sie das beschrieben haben, eine nachhaltige Sache?
Ich glaube schon. In den Schulen ist es zumindest angekommen, nur der Staat hat es noch nicht begriffen, wie wichtig das Singen wirklich ist. Wir tun alles dafür, damit es wieder ins Bewusstsein kommt.
Mit seiner berühmten Liedersammlung, an der Sie ja auch mitwirkten, hat der Carus-Verlag so viel Umsatz gemacht wie mit keiner anderen Publikation.
Sehen Sie! Ich engagiere mich, wo ich kann.
Angesichts Ihres Wettbewerbs mit internationaler Beteiligung frage ich mich aber schon, ob zumindest das deutsche Kunstlied nicht doch verloren ist, da ja viele ausländische Studenten, vor allem die aus Asien, der Sprache gar nicht mächtig sind, geschweige denn den kulturellen Hintergrund verstehen.
Ich weiß, was Sie meinen. Koreaner sind ein großes Problem an den Musikhochschulen, weil sie sich oftmals weigern, Deutsch zu lernen. Beim Wettbewerb gewinnen aber nur die Leute, die etwas zu sagen haben, das merken Sie. Dafür ist die Jury auch zu hochkarätig besetzt. Die hört, wenn die Teilnehmer sich damit befasst haben.
Aber wie geht das, Kunstlieder zu singen, ohne die Sprache zu beherrschen?
Elīna Garanča gibt ja auch Liederabende, oder Anna Netrebko. Und die macht das ganz toll. Natürlich dann mit russischer Literatur, das ist ja auch legitim.
Gut, anders herum gefragt: Was hat uns Robert Schumann heute noch zu sagen?
Ich glaube, die romantische Musik bringt uns auf unsere eigene Gefühlswelt zurück. Sich für anderthalb Stunden einer ganz naiven Sicht von Natur oder nicht realisierbarer Liebe hinzugeben – was könnte schöner sein? Worum dreht sich denn unser Leben? Wir wollen geliebt werden und wir wollen lieben. Wenn Sie die „Ernsten Gesänge“ nehmen, sind das hoch aktuelle Texte. Das sind doch die gleichen Themen. Eine „Winterreise“ so zu geben, dass man die Leute sprachlos zurücklässt, wie es Daniel Barenboim und mir in der Mailänder Scala mal ging, das zeigt doch, dass diese Literatur sehr wohl noch in die heutige Zeit hineinreicht, vielleicht mehr, als man das manchmal wahrhaben will. Es braucht nur eben, und da wiederhole ich mich gerne, Protagonisten, die etwas zu sagen haben, und da ist mir um das Lied nicht bange, gar nicht.