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1700 Jahre jüdische Musik in Deutschland | Interview Volker Ahmels

„Alles das, was bei Hitler verboten war, ist bei uns erlaubt“

Pianist Volker Ahmels ist Gründer und Leiter des Wettbewerbs „Verfemte Musik“ in Schwerin und setzt sich für die Wiederentdeckung und -aufführung der Werke von durch die Nationalsozialisten verfemte Komponisten ein.

vonNinja Anderlohr-Hepp,

Begeisterung ist etwas, das Volker Ahmels ohne Unterlass ausstrahlt. Der Direktor des Schweriner Konservatoriums ist nicht nur Pianist und Pädagoge, sondern hat sich der Erinnerungsarbeit verschrieben: Seit Jahrzehnten arbeitet er am Zentrum für Verfemte Musik an der HMT Rostock sowie mit seinem Festival Verfemte Musik gegen das Vergessen der von den Nationalsozialisten verbotenen und verfolgten Komponisten und ihrer Musik an. Für seinen unermüdlichen Einsatz wurde er 2018 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Wenn man nach dem Begriff „Verfemte Musik“ sucht, findet man lange nichts und stößt dann auf Sie und Ihren Wettbewerb. Wie kommt das?

Volker Ahmels: Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber manchmal kommt es mir so vor, als ob ich diesen Begriff selbst erfunden hätte! Vor 25 Jahren haben wir in Schwerin das erste Mal Krásas Kinderoper Brundibár gespielt und sind im Anschluss nach Israel gefahren. Damit begann ein intensiver Austausch und unsere Zeitzeugen- und Erinnerungsarbeit. 2001 stellte sich dann die Frage, wie wir den Holocaust-Gedenktag begleiten wollen und unsere Antwort darauf war: Alles das, was bei Hitler verboten war, ist bei uns erlaubt! Ein Projektname musste her. Für mich war das Problem, dass die Begriffe verbotene oder vergessene Musik nicht scharf genug waren. Ein französisches Projekt heißt Verstummte Stimmen, in Holland gibt es die Forbidden Music. All das passte nicht. Wir wollten nicht nur jüdische Komponisten zur Aufführung bringen, sondern die Werke von Verfolgten jedweder Art. Deswegen sahen wir uns in einer Familie mit dem bereits gängigen Begriff der Verfemten Kunst. Und dann habe ich daraus Verfemte Musik gemacht. Für mich ist das der einzige Oberbegriff, der alles abdeckt.

War 2001 der eigentliche Zündungsmoment für Ihre Beschäftigung mit dem Thema „Verfemte Musik“ oder haben Sie sich vorher bereits mit der Materie auseinandergesetzt?

Ahmels: Meine Frau, die ebenfalls Pianistin ist, und ich sind musikalisch bei Bernhard Wambach aufgewachsen – das heißt, dass zeitgenössische Musik für uns eine Normalität und immer von Interesse war. In den 1990er-Jahren wurde dann in Schwerin Ullmanns Der Kaiser von Atlantis aufgeführt und hat mich sehr beeindruckt. Mit Brundibár schlugen wir eine ähnliche Richtung ein und durch die begleitende Israelreise kam der Kontakt zu Überlebenden aus Auschwitz und Theresienstadt zustande. Ich las natürlich auch Literatur zu diesem Thema und bin auf Ruth Elias’ Buch Die Hoffnung erhielt mich am Leben gestoßen. Es gab also keinen Moment, der das alles in Gang gesetzt hat – es war ein ständiger Prozess. Ich habe für mich entschieden: Solange es noch irgendeinen Überlebenden des Holocaust gibt, werde ich ganz sicher nicht damit aufhören, mich für die Erinnerungsarbeit und die Musik einzusetzen. Es ist ein Lebensprojekt.

Gibt es in Ihrer Familiengeschichte auch einen Aspekt, der Sie antreibt?

Ahmels: Das werde ich auch sehr häufig gefragt. Die Antwort ist: nein. Ich selbst habe keine jüdischen Vorfahren, aber mein Großvater kämpfte in der Hamburger Widerstandsgruppe gegen das System. Ich setze mich auch nicht nur aus Empathie oder Mitleid ein. Ich finde, dass diese Musik wahnsinnig gut ist und dass es absolut notwendig ist, sie und die Lebensschicksale ihrer Schöpfer bekannt zu machen. 

Es gibt bestimmt viele Werke, die noch unentdeckt und ungespielt irgendwo schlummern. Wie läuft so eine Wiederentdeckung bei Ihnen eigentlich ab?

Ahmels: Das ist extrem unterschiedlich und häufig auch absoluter Zufall. Mal gibt es Nachfahren, die im Nachlass Noten finden. Und die dann über Hörensagen auf uns stoßen. Viktor Ullmann wollte seine Kompositionen aus Theresienstadt mit nach Auschwitz nehmen – ein Freund hielt ihn davon ab und versteckte die Noten. Erst nach dem Krieg hat man seine Werke wiedergefunden; hätte Ullmann sie mitgenommen, wäre sein Musik genauso verloren wie er. Das beste Beispiel hat sich direkt in meiner Hamburger Nachbarschaft abgespielt: Ingolf Dahl, ein Pianist und Komponist, war in Groß Borstel aufgewachsen und 1933 aufgrund seiner deutsch-jüdischen Herkunft über die Schweiz in die USA emigriert. Über einen Kommunalverein wurden wir auf sein Werk aufmerksam gemacht, haben seine Familie und seinen Stiefsohn in London kennengelernt. Dann fanden wir heraus, dass er ein Rondo für Klavier zu vier Händen geschrieben haben muss, spürten die Noten in Kalifornien auf und haben es mit großem Aufwand und mithilfe einer Arbeitsgruppe des Zentrums Verfemte Musik an der HMT Rostock sowie moderner Notensatzprogramme fertig gestellt. 2018 wurde das Stück dann gemeinsam mit Dahls „Four Intervals for piano four handed“ veröffentlicht. Letztere haben meine Frau und ich kürzlich auch aufgenommen. Stellen Sie sich das vor, ein verfemter Komponist, an dessen Geburtshaus ich jeden Tag zwei- bis viermal unbewusst vorbeigefahren bin. Mehr Zufall geht nicht!

Friederike Haufe und Volker Ahmels
Friederike Haufe und Volker Ahmels

Sie sind also so etwas wie die Anlaufstelle für „verfemte Musik“ …

Ahmels: Das stimmt! Und wissen Sie, das ist das Spannende an dieser Arbeit. Manchmal sucht man gar nicht, sondern es kommen Werke und Menschen auf einen zu. Ich erhalte auch unzählige Anfragen, welche Komponisten man in Konzertprogramme integrieren könnte und wo es die Noten gibt. Das Interesse wächst!

Warum hat es so lange gedauert, bis sich in Deutschland jemand um den Verbleib der Werke verfemter Komponisten gekümmert hat?

Ahmels: Da gibt es mehrere Aspekte. Zum einen muss man sich ganz klar die Frage stellen: Wer waren die Leute, die in Positionen gekommen sind, aus denen jüdische Menschen vertrieben oder dafür ermordet wurden? Das waren sicherlich nicht dem System feindlich gesinnte Leute. Und dass diese Menschen nach Kriegsende nicht sofort mit der Aufarbeitung verfemter Musik beginnen, ist leider klar. Der zweite Aspekt ist, dass die Zeitzeugen nicht geredet haben. Sie wollten ihren Kindern ersparen, über ihr Schicksal das eigene Schicksal zu erfahren. Einige haben später mit ihren Enkeln gesprochen, so etwa Anita Lasker-Wallfisch: Ihrem Sohn hat sie nie was erzählt, der Enkel hat gefragt und bekam Antworten. Der dritte Aspekt war die Trennung Deutschlands in Ost und West. Als Wissenschaftler kam man seinerzeit einfach nicht in die nötigen Archive hinein. Erst durch die Wiedervereinigung und die nachhaltige Forschung von Albrecht Dümling hat sich das geändert.

Und Sie übertragen nun die Ergebnisse der Forschung in die Praxis?

Ahmels: Richtig, das ist für die Erinnerungsarbeit total wichtig. Mit unserem Festival Verfemte Musik und mit der Sonderwertung für die Interpretation verfemter Musik beim Wettbewerb Jugend musiziert normalisieren wir diese Werke für den musikalischen Nachwuchs und bringen sie in den Werkskanon zurück. Und wenn Künstler wie Daniel Hope oder Anne Sofie von Otter die Säle mit Musik aus Theresienstadt füllen können, kann man auch ein Regionalorchester Ullmann oder Dahl aufs Programm setzen!

Inwieweit haben Sie das Gefühl, dass trotz Ihrer Aufklärungsarbeit manche Werke durch die Bezeichnung als „verfemte Musik“ stigmatisiert werden?

Ahmels: Man kann nicht ganz von der Hand weisen, dass es so ist. Und man kann dem nur entgegenwirken, indem man die Aufführung verfemter Musik zur Normalität werden lässt. Man muss zum Beispiel den Mut haben, diese Werke unabhängig von Gedenktagen zu spielen. Es sollte irgendwann nur noch um die Qualität der Musik und nicht um das Schicksal ihrer Komponisten gehen. Und da hat Musik einen unglaublichen Vorteil gegenüber allen anderen Gattungen: Sie geht direkt ans Herz, an die Emotionen. Und das überwindet letztens Endes doch jedes Stigma!

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