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Interview Xavier de Maistre

„Es ärgert mich, dass die Kunst momentan zu wenig Beachtung findet“

Im Interview spricht Harfenist Xavier de Maistre darüber, wie seine Arbeit als Porträtkünstler für das Schleswig-Holstein Musik Festival weitergeht, das Alternativprogramm und die Vor- und Nachteile von Streaming.

vonIrem Çatı,

Harfenist Xavier de Maistre ist seit Jahren Gast des Schleswig-Holstein Musik Festivals und hätte in diesem Jahr als Porträtkünstler eine tragende Rolle gespielt. Im Rahmen des „Sommer der Möglichkeiten“ ist er dennoch zu erleben.

Wie haben Sie von der Absage des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF) erfahren?

Xavier de Maistre: Zwei Tage vor der offiziellen Ankündigung hat mich Intendant Christian Kuhnt angerufen und gesagt, dass die Möglichkeit besteht, dass das Festival in diesem Jahr nicht wie gewohnt stattfinden kann. Er war aber der Meinung, dass man das SHMF auf keinen Fall absagen sollte, da es sehr wichtig für das Publikum und die Region sei. Deswegen haben wir viel darüber gesprochen und überlegt, wie es trotzdem stattfinden könnte.

Haben Sie mit einer Absage gerechnet?

de Maistre: Als das alles angefangen hat, dachte ich, dass es ja noch einige Monate bis zum Sommer sind. Dann aber wurde alles nacheinander abgesagt. Mittlerweile frage ich mich, ob es die richtige Entscheidung war, denn die Zahlen der Neuinfektionen gehen immer weiter herunter. Aber es war nicht klar, ob alle Künstler einreisen können, und so eine Entscheidung kann man auch nicht spontan und leichtfertig fällen.

In diesem Jahr sind Sie Porträtkünstler des Schleswig-Holstein Musik Festivals. Was sind da genau Ihre Aufgaben?

de Maistre: Die Arbeit als Porträtkünstler ist eine einzigartige Gelegenheit – eine Freikarte sozusagen, um alle Ideen zu verwirklichen. Ich wollte hierfür wirklich alle Facetten meines Instruments präsentieren. Die Harfe als Solo- und Kammermusikinstrument, mit Sinfonieorchester und in Kombination mit Kastagnetten und Schauspielern. Die Freiheit, so viele Projekte zu realisieren, hat man nirgendwo anders. Und es hat mir sehr viel Spaß gemacht, alles vorzubereiten.

Christian Kuhnt hat erzählt, dass es sehr schwer war, Sie als Porträtkünstler zu gewinnen. Warum?

de Maistre: (lacht) Es ist schon fast Ironie des Schicksals, dass ich das Projekt „Porträtkünstler“ so lange hinausgezögert habe und es jetzt auf einmal gar nicht mehr komplett verwirklichen kann. Ich habe immer gesagt, dass ich es mir nicht antun kann, einen ganzen Sommer in Deutschland zu verbringen. Nun, da ich zugesagt und mich darauf gefreut hatte, bleibe ich am Ende doch wieder in Südfrankreich.

Im Rahmen des „Sommer der Möglichkeiten“ gibt es dennoch Ersatzveranstaltungen.

de Maistre: Zur Eröffnung wird es auf dem wunderschönen Gut Hasselburg ein Galakonzert geben, das auf 3sat übertragen wird und bei dem sich die Porträtkünstler der letzten Jahre präsentieren: Sol Gabetta, Sabine Meyer, Janine Jansen, Martin Grubinger, Avi Avital und ich. Ich glaube, dass auch die Spielstätten das SHMF ausmachen, weshalb es nur richtig war, sie auch per TV-Übertragung zu zeigen. Außerdem werde ich für arte ein Konzert mit dem Mahler Chamber Orchestra geben. Und es sind weitere Konzerte für den NDR geplant. Ein großes Projekt wird mein Solokonzert sein, und es wird – das war mir sehr wichtig – ein Harfenfest mit meinen ehemaligen Studenten geben, die mittlerweile selbst Musiker beim NDR oder der Hamburgischen Staatsoper sind.

Wie geht Ihre Arbeit als Porträtkünstler weiter?

de Maistre: Die Tatsache, dass man nichts planen kann, macht die Situation so einzigartig. Dieses Gefühl war einerseits beängstigend, wie beruhigend. Man konnte keine Entscheidungen mehr treffen und musste einfach Innehalten. An manchen Tagen reicht es sich zu sagen, dass man gesund ist und neue Projekte entwickeln kann. Aber an anderen Tagen fragt man sich, wozu man das alles eigentlich macht, wenn man sowieso nicht auftreten kann. Es fehlt mir wirklich sehr auf der Bühne zu stehen, meine Kunst zu teilen und mit dem Publikum und anderen Künstlern zusammen zu sein. Mir fehlt die Wärme, die man normalerweise erlebt. Aber ich konnte vieles über Fernsehen und Streaming verwirklichen. Darüber erreicht man sehr viele Menschen, die hoffentlich beim Zuschauen Lust bekommen, wieder ins Konzert zu gehen.

Über die sozialen Medien kann man zwar gut kommunizieren, aber die Zwischentöne und die Herzlichkeit gehen verloren. Es ärgert mich wirklich sehr, dass die Kunst momentan zu wenig Beachtung findet. Die Menschen dürfen zwar mit Mundschutz nebeneinander im Zug sitzen aber nicht im Konzert. Es ist für mich schwer nachvollziehbar, dass sich die Politik keine Gedanken darüber macht und wir Künstler den Eindruck bekommen, man brauche die Musik nicht. Dabei könnte man gemeinsam Lösungen entwickeln. Denn was die Menschlichkeit ausmacht ist die Kultur als geistige Nahrung. Sie ist Bestandteil unseres Lebens. Ich wurde in letzter Zeit häufig gefragt, ob ich mich jetzt neu erfinden müsse aber wie soll ich das machen? Zurzeit ist nichts wirklich möglich! Uns wurde ja sogar die Freiheit genommen uns frei in Europa zu bewegen. Der Gedanke von einem geteilten Europa hat mir wirklich Angst gemacht – auch, dass die wunderschöne Idee dieser Gemeinschaft verloren geht.

Xavier de Maistre ist in diesem Jahr Porträtkünstler des Schleswig-Holstein Musik Festivals
Xavier de Maistre ist in diesem Jahr Porträtkünstler des Schleswig-Holstein Musik Festivals

Der NDR und 3sat unterstützen das SHMF als Medienpartner und übertragen einige Konzerte. Wie stehen Sie zu dem Streaming-Hype der letzten Wochen?

de Maistre: Streaming ist eine gute Möglichkeit, um den Zuhörern neue Instrumente oder neue Musik näher zu bringen. Und es ist eine wunderbare Ergänzung zum Liveerlebnis – wenn es denn professionell gemacht wird. Ich bin allerdings skeptischer, was die sozialen Medien anbelangt, vor allem wenn die Mitschnitte daheim unter schlechten Bedingungen gemacht werden. Auch Videos von Ensembles, die ihre Stimmen zu Hause aufgenommen und später im Video zusammengeführt haben, konnte ich irgendwann nicht mehr sehen. Als Musiker muss man einfach zusammen interagieren und sich gegenseitig inspirieren und nicht einfach nebeneinander her spielen. Grundsätzlich ist Streaming aber eine tolle Chance, um die Kunst und die Musik am Leben zu erhalten und uns alle für die nächste Phase vorzubereiten. Ich mache mir, ehrlich gesagt, auch keine Sorgen darüber, dass die Leute jetzt nur noch zu Hause Musik erleben möchten. Ich denke, das Publikum ist hungrig und wartet nur darauf, wieder ins Konzert gehen zu können. Musik live vor Ort zu erleben ist eine ganz andere Sache.

Es war Ihnen ein besonderes Anliegen, diese Chance zu nutzen, um alle Facetten Ihres Instruments zu zeigen. Ist das jetzt noch möglich?

de Maistre: Als Harfenist hat man leider nicht wie als Pianist 23 Mozart-Konzerte! Also muss man sich immer neu erfinden, Ideen haben und kreativ sein. Meine Arbeit als Porträtkünstler war die Gelegenheit, alle Projekte der letzten Jahre zu präsentieren, beispielsweise „Die Königliche Harfe – Musik aus der Zeit von Marie Antoinette“, Konzerte mit der Kastagnetten-Virtuosin Lucero Tena oder aktuell Musik aus Südamerika mit Rolando Villazón. Es war eine fantastische Gelegenheit, die Harfe in den Vordergrund zu stellen und aufzuzeigen, wieviel sich in den letzten Jahren getan hat. Früher haben mir alle von einer Solokarriere abgeraten, heute ist die Harfe als Soloinstrument akzeptiert. Mich als Porträtkünstler zu präsentieren war für mich wie die Krönung dieser Akzeptanz.

Werden Sie Ihre Arbeit als Porträtkünstler irgendwann „nachholen“?

de Maistre: Ein Teil der geplanten Auftritte wird durch Fernsehübertragungen und -berichte sowie Streaming erfolgen. Die Konzerte mit Rolando Villazón sind für Januar geplant, einige andere Projekte werden im nächsten Jahr nachgeholt. Die Residenz wird quasi auf ein Jahr verteilt. Es geht auch nicht anders, weil die Porträtkünstler der nächsten zwei Jahre feststehen. Deswegen war es uns wichtig, das SHMF in diesem Jahr weitestgehend am Leben zu erhalten, um so neue Liebhaber für die klassische Musik und die Harfe zu gewinnen. Trotzdem ist es bedauerlich, dass man auf den persönlichen Kontakt zum Publikum, der das Festival ausmacht, in diesem Sommer leider verzichten muss.

Was möchten Sie in Schleswig-Holstein außerhalb des Festivals erleben?

de Maistre: Ich werde natürlich für eine kürzere Zeit dort sein als ursprünglich geplant. Aber ich möchte mir viele schöne Spielstätten ansehen und auch an die Ostsee fahren, um die Natur dort zu erleben. Es wäre schön, wenn ich mir vor den Konzerten die Ortschaften anschauen und so gut es geht mit den Leuten vor Ort und mit denen, die das Festival möglich machen, zu kommunizieren.

Was ist das erste, das Sie nach der Krise machen möchten?

de Maistre: Leider gibt es keinen Stichtag, an dem wir sagen: Jetzt ist die Krise vorbei. Wir können ja auch schon wieder fast alles machen – außer Konzerte geben. Ich habe mir aber vorgenommen, dass ich jedes Konzert in vollen Zügen genießen werde, sobald ich wieder vor Zuhörern spielen darf. In den letzten Jahren hatte ich eine große Zahl an Auftritten und saß so viel im Flugzeug, dass ich fast müde war. Aber nach dieser Pandemie habe ich mir vorgenommen nie zu vergessen, welches Glück und Privileg es ist, musizieren zu können und besondere Momente mit dem Publikum zu teilen.

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