Empörungsroutiniers waren im dritten und damit letzten „Ring“-Zyklus der diesjährigen Bayreuther Festspiele nicht am Werk, selbst wenn nach dem ersten „Siegfried“-Akt ein einstimmiges Buh-Crescendo ins Fortissimo schwoll. Publikum und Presse hatten bei der vierteiligen Premiere von „Der Ring des Nibelungen“ zwiespältig bis gnadenlos auf die Inszenierung von Valentin Schwarz reagiert. Mit etwas zeitlichem Abstand zur überhitzten Premieren-Stimmung waren Unmutsbekundungen vom 25. bis 30. August im ausverkauften Festspielhaus genau platziert. In der „Götterdämmerung“ schwiegen viele Hände und Münder nach Verklingen der Schlussakkorde wie gelähmt: Zu heftig waren im sogenannten „Netflix-Ring“ die überzogenen Aktionen, zu seicht die szenischen Löcher. Bilder und Aktionen gaben mit Text und Musik meist nur schwer vereinbare Rätsel auf: Keine jubelnde Lust zwischen dem Zwillingspaar Siegmund und der vermutlich von Stammvater Wotan hochschwangeren Sieglinde. Der aus der Partitur springende Liebestaumel von Siegfried und Brünnhilde begleitete im „Götterdämmerung“-Vorspiel den Ausbruch des Mannes aus den Fesseln einer abgekühlten Beziehung. Das schlug sich auch auf den sängerischen Leistungen nieder.
Zu (Un-)Taten gewordene Musik
Herausforderungen durch Konzepte und inhaltliches Neudenken dürfen und müssen sein, sie beflügeln oft durch packende oder provokative Überwältigung. Aber hier drifteten Wollen und Resultat zu sehr auseinander, obwohl Schwarz durch die durch die Pandemie bedingte Verschiebung von 2020 auf 2022 genügend Zeit zur Vertiefung seiner Assoziationen und der oft abgebremst wirkenden Spielleitung gehabt hätte. Bei ihm sind Täter und Opfer fast immer blond. Denn der Tycoon Wotan bedient sich an allen Frauen im Luxus-Stall wie ein vorzeitlicher Patriarch. Mit dieser willkürlichen Nachwuchsüberproduktion wehrt Wotan sich gegen den schicksalhaften Erdrutsch seines Machtimperiums. Schwarz hält die politische Dimension für unwesentlich und begründet seine szenische Strategie damit, dass Wagners „Ring“-Dichtung Ungereimtheiten enthält und die Tonsprache eh im stetigen Wandel von Sinn und Tongestalt dahinrauscht. Trotzdem passt Schwarz‘ Sicht in die Reihe der Deutungen von Patrice Chéreau, Harry Kupfer und Frank Castorf vor ihm. Dabei gibt es zwischen diesen und Schwarz einen gewichtigen Unterschied. Bei den früheren Bayreuther Inszenierungen wehrten sich Zuschauer gegen die Deutlichkeit der Darstellung und unliebsame Wagner-Wahrheiten. Die Buhs gegen Schwarz aber sind Hilferufe gegen inhaltliche Missverständnisse.
Die Bayreuther Festspiele 2022: ein durchwachsenes Fazit
Dabei standen die Festspiel-Sterne 2022 überaus günstig. Die Premiere des „Ring-Zyklus“ sollte wegen der Baumaßnahmen am Festspielhaus erst am 30. Juli starten, weil die partielle Fertigstellung bis zum traditionellen Eröffnungstag, dem 25. Juli, zuerst nicht und Ende 2021 urplötzlich doch gewährleistet wurde. Das ermöglichte der Wagner-Urenkelin und Festspielleiterin Katharina Wagner die kurzfristig eingeschobene Produktion von „Tristan und Isolde“ in der Regie von Roland Schwab am 25. Juli, einige Konzerte und die zusätzliche Premiere „Nach Tristan“ mit Dagmar Manzel.
Der Grüne Hügel sollte nach zwei Jahren pandemisch bedingtem Niedrig-Dimmen freudig strahlen. Doch dann kam es Schlag auf Schlag. Mitte Juni sagte John Lundgren den Wotan ab, es übernahmen Egils Silins für „Das Rheingold“ sowie Tomasz Konieczny für „Die Walküre“ und „Siegfried“. Der für den „Ring“ vorgesehene Bayreuth-Debütant Pietari Inkinen bekam vor den entscheidenden Proben Corona. Also switchte Cornelius Meister, der durch Assistenzen bayreutherfahrene, als Vorstellungsdirigent dort ebenfalls debütierende Stuttgarter Generalmusikdirektor, von der Leitung des „Tristan“ auf den kompletten „Ring“. Den „Tristan“ übernahm Markus Poschner. In der „Walküre“-Premiere verletzte sich Konieczny wegen einer gebrochenen Stuhlrückenlehne, die Vorstellung brachte der für Gunther in „Götterdämmerung“ verpflichtete Michael Kupfer-Radecky zu Ende. Und dann musste noch Stephen Gould den Siegfried in der „Götterdämmerung“-Premiere absagen, worauf der Erler Siegmund Clay Hilley diese rettete. Viel überregionales Spekulationsgeklapper gab es seit der zweiten Juli-Hälfte wegen einer öffentlichen Erwähnung von sexuellen Übergriffen im Festspielbetrieb, wobei weder Namen der Klägerinnen noch der Übergreifenden an die Öffentlichkeit kamen und Katharina Wagner interne Lösungsangebote offerierte.
Brünnhilde wehrt sich
Als sich nach der „Götterdämmerung“-Premiere der von einigen als längster Buhsturm der Festspielgeschichte empfundene Publikumszorn Luft machte, erinnerten sich Stammgäste an vergleichbare Unmutsbekundungen nach zur Bayreuther „Ring“-Premiere von Frank Castorf (2013 ff) und dem „Jahrhundert-Ring“ von Patrice Chéreau (1976 ff). In beiden Fällen wurde in den Folgejahren Empörung zu begeisterter Euphorie. Beide Sichtweisen betrachtet man heute als Meilensteine der Wagner-Rezeption.
Folgt auf Premieren-Empörungen und Missverständnisse zwangsläufig eine zeitversetzte Bayreuther Apologie? Kann sein oder nicht sein. Brünnhilde-Sängerin Irene Theorin erleichterte nach der „Götterdämmerung“ am 30. August ihrem Unmut über negative Kritiken (und vielleicht auch über die Inszenierung). Sie deutete auf Personen im Saal, reckte den Stinkefinger und steckte erst danach eine lautstarke Buh-Lawine ein. Eigentlich kein Wunder: Teile ihres großen Schlussgesangs durchsetzte Theorin mit kleinen Karate-Rufen. Dann hantierte sie in einem tiefen leeren XXL-Swimmingpool recht unelegant mit einem übergroßen Benzinkanister, was die Tonproduktion unnötigerweise beeinträchtigte. Zudem war der ihr von Familienuntergangscouturier Andy Besuch verpasste Frisiermantel in Marshmallow-Pink eher RTL- als Netflix-Style. Die charakterliche Differenzierung vor allem der Frauenfiguren war aufgrund der Outfit-Akkumulationen nicht immer erkennbar. „Denn oft sehen Frauen auf Opernbühnen schrecklich aus“, sagte Andy Besuch zum TAff-Festspielmagazin und verschob die Damenoutfits um eine Nuance zu weit ins Dragqueen-Ressort. Vieles in Andrea Cozzis Bühnenbild brachte mehr Rätselspaß als Erkenntnisrendite – trotz des „Rheingold“-Kinderhorts mit dem Nachwuchs als wichtigster Zukunftsressource und dem Walkürenfelsen als Schönheitsfarm, in der sich Wotans Töchter an die Krawatten der Security machen. Warum wandert nicht ein einziges Requisit, sondern abwechselnd ein Revolver und ein Degen aus Mimes Puppentheater anstelle des Schwerts Nothung von Hand zu Hand?
Musikalisches Trockengebiet mit vokalen Trostpflastern
Wenige im besten Sinn atemberaubende Szenen gibt es, wenn zum Beispiel am Ende der „Walküre“ Fricka nach dem Tod Siegmunds und Hundings ihren Big-Boss-Gatten mit Schampus versöhnen will und eine irreparable Abfuhr erhält. Als Siegfried anstelle des Drachen Fafner einen hinfälligen Greis tötet und sein späterer Mörder Hagen ihn wie einen echten Kerl anhimmelt, gewinnt die Szene an innerem Drive. Aber für 10 Aufzüge und 15 Stunden Musikdauer gibt es zu wenige solcher Verdichtungen.
Auf alle Fälle sollten sowohl Regie, musikalische Leitung, Direktionsspitze und Ensemble für die Wiederaufnahmen vor dem neuen „Ring“ zum 150-Jahre-Jubiläum 2026 noch einmal in sich gehen und nachbessern. Denn schwerer als kleine und größere Ausrutscher mit Sackgassengarantie wiegt, dass Bayreuther Kardinaltugenden verloren zu gehen drohen. Die früher exzellente Textverständlichkeit befindet sich auf einem gefährlichen Tiefpunkt. Mit Hilfe des Dirigenten kommt Stephen Gould in kurz gehaltenen Silben und weggelassenen Spitzentönen durch Siegfrieds Erzählungen. Cornelius Meister hatte trotz gründlicher Stückvorkenntnisse offenbar zu wenig Zeit, um sich Potenzial und Risiken des unsichtbaren Orchesters anzueignen. Brillant geraten die pastoralen Inseln der Rheinfahrt in „Götterdämmerung“ und viele Parlando-Stellen im „Rheingold“. Anderes lässt Nachdruck vermissen wie das sich in die Länge ziehende Abnabelungsgeplänkel des von Andreas Schager mit kräftigem Draufgängertum ausgestatteten jungen Siegfried mit Arnold Bezuyen als sein etwas fahler Erziehungsberechtigter Mime. Dessen Dickkopf schiebt der groß geratene Kleine einmal kurz in die Mikrowelle.
Figuren insgesamt weniger kohärent als von Wagner gedacht
Im Melodischen ist Cornelius Meister manchmal etwas trocken. Am besten gelingen ihm die strategischen Palaver der seligen Götter und der Gibichungen, schließlich auch eine monumental-affektive Trauermusik. Deklamatorisch bewusstes und melodisch austariertes Singen ist selten, kommt vor allem von der phänomenalen Christa Mayer als First Lady Fricka und Kokserin Waltraute. Auch von den Bässen Georg Zeppenfeld als Hunding und Wilhelm Schwinghammer als Fafner. Sie sind wie Okka von der Damerau (Erda), Stéphanie Müther („Walküre“-Waltraute und zweite Norn) Lichtblicke. Lise Davidsen flutet ihre weithin gerühmte Sieglinde mit verschwenderischem Material und Elisabeth Teige als vielversprechender Bayreuther Neuzugang tut es ihr als Gutrune nach, ebenso Daniela Köhler als „Siegfried“-Brünnhilde. Viele geben in der hervorragenden Akustik des Festspielhauses zu viel Druck und belasten deshalb ihre Kondition unnötig. Tomasz Konieczny klang bei den Wagner-Tagen Budapest vor sieben Wochen markanter und kantabler als in Bayreuth.
Einen Großteil dieser Inszenierung knackt man, wenn man seinen Frieden damit macht, dass die Figuren nicht so kohärent vorgeführt werden wie von Wagner gedacht. Der Luxuskarossen-Besitzer Fafner in „Rheingold“ ist eine andere Gestalt als der gebrechliche Fafner zwei Abend später in „Siegfried“. Möglicherweise ist auch die Brünnhilde der „Walküre“ eine andere als die Brünnhilde der „Götterdämmerung“. Sonst gäbe es kaum eine Erklärung dafür, dass ihr stummer Gefährte Grane (nach Wagners Textbuch das Ross Grane: Igor Schwab) vor seiner Abschlachtung zwar altert, Brünnhilde aber nicht. Daniel Kirch ist als Loge eine schräge wie gesangstüchtige Bereicherung. Albert Dohmen (Hagen) und Olafur Sigurdarson (dreimal Alberich) glänzten mehr markant als geschmeidig. Zum Schluss noch etwas Gutes: Bei Valentin Schwarz gibt es im „Ring“ weniger Smartphones und Nebel als anderswo.
Bayreuther Festspiele
Wagner: Der Ring des Nibelungen (3. Zyklus)
Cornelius Meister (Leitung), Valentin Schwarz (Regie), Andrea Cozzi (Bühne), Andy Besuch (Kostüm), Reinhard Traub (Licht), Egils Silins, Daniel Kirch, Christa Mayer, Okka von der Damerau, Olafur Sigurdarson, Klaus Florian Vogt, Georg Zeppenfeld, Michael Kupfer-Radecky, Lise Davidsen, Iréne Theorin, Andreas Schager, Arnold Bezuyen, Tomasz Konieczny, Daniela Köhler, Stephen Gould, Albert Dohmen, Festspielchor, Festspielorchester