Am 29. November 1924 verstarb der Meister aus Lucca. Eine gesteigerte Auseinandersetzung mit dem Italiener, der die ersten Automobile so sehr liebte wie den Tabak, bleibt jedoch aus. Natürlich stehen „Tosca“ und „Turandot“ in gewohnter Regelmäßigkeit auf den Spielplänen und füllen die Theater so sicher wie wenige andere Werke. Doch seine Rezeption bleibt oberflächlich. Liegt das am Kitschverdacht seiner Musik, deren Sentiment angeblich trieft? Seinen komponierenden Kollegen erging es zu ähnlichen Anlässen anders: Zum Mozartjahr 2006 setzten die Salzburger Festspiele das gesamte Opernschaffen des großen Sohnes der Stadt aufs Programm. Zum Wagner-Jahr 2013 wurden seine Haupt- wie seine Nebenwerke allerorts in Neuinszenierungen befragt. Und eine Schwemme an neuen Büchern über Werk und Wirkung des Bayreuthers kam auf den Markt. Ähnlich erging es anno 2013 seinem gleichalten Mitstreiter Giuseppe Verdi.
Ist Puccini also zweitklassig? Betrachtet die Musikwissenschaft das frühe 20. Jahrhundert – die Phase seiner absoluten Reife –, dann fällt sein Name mitnichten. Da schreibt und spricht man dann gern mit Vorliebe von Richard Strauss, der wie Puccini aus der Spätromantik kam und in die Moderne aufbrach. Der Bajuware, der mit „Elektra“ und „Salome“ absolutes Neuland in Harmonie und Orchestrierung betrat, ätzte gar gegen den Toskaner, verglich dessen Werk mit „einer delikaten Weißwurst“, die schnell verzehrt werden müsse, während die „kompakter gearbeitete Salami“ eben „doch ein bisschen länger vorhält.“ Mit der Salami meinte Strauss natürlich seine eigenen Opern. Ist Puccini also der Mann für die etwas schlicht gestrickten Fast-Food-Operngänger, die den schnellen Kick vordergründig attraktiver, aber billiger Arien und den kulinarischen Genuss schöner Stellen dem anstrengend intensiven und damit bleibenden Erlebnis großer Kunst vorziehen?
Fortschrittsfeindlich? Im Gegenteil!
Wer zugibt, Puccini zu schätzen oder gar zu verehren, gehört entweder zur zweiten Reihe der Wissenschaft oder spricht mit vorgehaltener Hand. Ist Puccinis Musik also der Konvention und Tradition verhaftet? Klingt sie rückständig? Fortschrittsfeindlich? Wer genauer hinhört, stellt das Gegenteil fest. Puccini nahm sensibel wahr, was zeitgleich um ihn herum komponiert wurde. Er pries Debussy, lobte seinen Kontrahenten Strauss, sein Interesse galt gar Strawinsky und Schönberg. Wer will, kann all diese Einflüsse in seiner Musik wahrnehmen. Allein die Schlampigkeit und Willkür von Dirigenten und Orchestern, aber auch von zur Vorstellung knapp und ungeprobt einfliegenden Sängerstars verhindern, dass wir hören, was an Zwischentönen und Modernität in seiner Musik verborgen liegt.
Dazu gehören die zart verschatteten Pastelltöne des Impressionismus im dritten Akt von „La Bohème“ oder der krasse Naturalismus der ins Orchester eingebauten „Instrumente“ von Autohupe und Sirene in „Il tabarro“: Solche deutlich vernehmbaren klanglichen Zutaten aus dem wahren Leben sollten die in der nun längst vergangenen Romantik zu oft mythologisch wie märchenhaft der Welt enthobene Gattung Oper mit der Wirklichkeit versöhnen und dazu auch mit den dezidiert unschönen, aber als nötig erachteten Mitteln der Drastik kurzschließen. Aber auch seine über das Klangliche hinausweisende aphoristische Dramaturgie der Kleinteiligkeit jenseits der konventionellen Handlungsoper zumal im reifen „Il trittico“ mit seinen scharf kontrastierenden drei Kurzopern zeigen Puccini, den Progressiven. Es gilt, ihn zu entdecken. Dazu braucht es Interpreten, die ihn – endlich – ernstnehmen.