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Opern-Kritik: Bayreuth Baroque – Flavio

Flavio der Filou

(Bayreuth, 7.9.2023) Körperlich drastisches Gipfeltreffen hochkarätiger Stimmen: Mit Händels „Flavio, re de‘ Langobardi“ gelingt Regisseur und Countertenor Max Emanuel Cencic eine umjubelte, bestens ausgewogene Eröffnungspremiere des Festivals Bayreuth Baroque.

vonRoland H. Dippel,

Ist Händels „Flavio, re de‘ Langobardi“ ein Vorgänger der Doppelmoral und Standesdünkel geschliffen geißelnden Gesellschaftskomödien von Oscar Wilde? Bei der Eröffnungspremiere des Bayreuth Baroque Opera Festival konnte man das vermuten. Auf eine Reihe von Londoner Heroen-Opern konterten Georg Friedrich Händel und sein Librettist Nicola Haym am 14. Mai 1723 im Londoner King’s Theatre am Haymarket mit einer recht frechen Oper aus der Biographie des für seinen lasziven Lebenswandel bis in die frühe Neuzeit berüchtigten Langobardenkönigs Flavius Cunincpertus.

Trotz-Händel-Präsenz allerorten führt dieser „Flavio“ in der großen Opernwelt noch immer ein Mauerblümchen-Dasein. Festival-Prinzipal, Regisseur und Sänger Max Emanuel Cencic wollte das ändern – ausgerechnet im Markgräflichen Opernhaus zu Bayreuth, wo die Hohenzollern-Markgräfin Wilhelmine ein eher tugendsames bis allegorisches Bildungs- und Unterhaltungsprogramm im Sinn hatte. Aber es funktionierte. Die begeistert aufgenommene Opernpremiere war auch der Auftakt zu einem Gipfeltreffen hochkarätiger Stimmen wie Valer Sabadus, Veronique Gens, Bruno de Sá und Daniel Behle.

Julia Lezhneva in Händels „Flavio, Re de’ Longobardi“
Julia Lezhneva in Händels „Flavio, Re de’ Longobardi“

Sittenbild aus Altengland

Trotz der verhältnismäßig geringen Originalspieldauer von 150 Minuten dauert der Abend inklusive zweier Pausen vier Stunden. Das liegt daran, dass der Countertenor Max Emanuel Cencic ein ebenso breites wie unterhaltsames und kurzweiliges Londoner Sittenbild der fortgeschrittenen Händel-Zeit entwirft. Dieses modelliert er mit Geistesblitzen zwischen Satire und Zote. Dafür hat ein Komparsen-Ensemble viel zu tun. Jedefrau und jedermann sind individualisiert.

Bald fällt der Groschen. Cencic stellt Bilder des britischen Zeichners und Karikaturisten William Hogarth nach: Man findet den Kleriker, den Kleinwüchsigen und ausladende Damenroben. Bei denen rutschen nicht nur die Netzschleier, sondern öfter auch die Mieder. An der Wand prunken Bilder mit Frauenakten. Die Fassaden des Salons sind samt und sonders nördlicher Barock. Cencic gönnt dem windschiefen Aktionsgerüst dieser Oper ein opulentes Ambiente.

Monika Jägerová und Fabio Trümpy in Händels „Flavio, Re de’ Longobardi“
Monika Jägerová und Fabio Trümpy in Händels „Flavio, Re de’ Longobardi“

Gewitzte Verstöße gegen die Formideale

Händel zeigt das mit gewitzten Verstößen gegen die von ihm mit aufgestellten Formideale. Es gibt zwei Duette an Signalstellen zu Beginn und Ende, in denen es eindeutig um das Eine geht. Dafür ereignet sich am Ende des zweiten Aktes, wo in der korrekten Form ein hohes Paar die ethischen Liebessterne umschwärmen sollte, ein Mord mit Klagearien. Helmut Stürmer hat Klappwände konstruiert, die als Raum Effekt machen und sich im richtigen Moment zum Pavillon zusammenfalten lassen. Corina Gramosteanu entwarf ein Kostümfest mit Spitzen, Krinolinen und uniformen schwarzen Perücken für die Herren. Es fehlten nur die bemalten Pigmentfleckchen und Schönheitspflästerchen. Alle Kostüme machten Staat. Cencic hatte für viele seiner Figuren ein historisches Vorbild aus den wichtigen Kreisen Londons herausgepickt.

Deshalb musste der Bühnenlaufsteg gefüllt werden. Weil das Arien-Material der Partitur nicht für die szenischen Paraden ausreichte, durchsetzten Concerto Cöln, das Residenzorchester von Bayreuth Baroque 2023, die Arien mit Tänzen und modischen Kurzstücken bis tief in den zweiten Akt. Nach dem Tod des alten Lotario verdichten sich nicht nur Sinnlichkeit und Trauer. Auch die Arien werden von Händel von da bis zum Schluss noch raffinierter ausgeziert. Der Dirigent Benjamin Bayl schenkt den Instrumentalstücken an Pult und Cembalo so viel Konzentration wie den Arien. In der dunklen akustischen Grundierung des Markgräflichen Opernhauses macht sich das besonders gut. Es ist ein körperlich sehr drastischer Abend, der nicht einmal vor der Darstellung des englischen Lasters (Vater züchtigt Tochter mit der Reitgerte) zurückschreckt.

Max Emanuel Cencic in Händels „Flavio, Re de’ Longobardi“
Max Emanuel Cencic in Händels „Flavio, Re de’ Longobardi“

Sängerdiademe

Im Zentrum steht wirklich Rémy Brès-Feuillet als hübscher König Flavio, bei dem die Damen der höfischen Entourage aufgrund erotischer und diplomatischer Interessen Schlange stehen. Schon von der Statur ist er ein voll potenter, aber noch nicht ganz erwachsener Cherubino. Als Amor und Kobold flattert Flavio mit allen Privilegien seines Standes auf den Thron und ins Himmelbett. Brès-Feuillets Tongebung ist leicht kehlig und damit auf elegante Weise zugleich ein bisschen animalisch. Ein Sonderfall und auch Störfaktor ist er in der Adelsliga und deren Repräsentanz-Äffereien.

Cencic weiß, wie seine Counter-Kollegen optimal zusammenwirken oder sich diversifizieren. Es fällt auf, dass er sich als Guido nicht ganz so in den Sinnen-, Gefühls-, Intrigen- und Etikette-Strudel wirft, wie er das als Spielleiter den anderen Figuren seines parodistischen Arien- und Adelsromans zumutet. Auch stimmlich ist der Österreicher konträr zu seiner Ausstrahlung weiß und dezent, während Yuriy Mynenko als Vitige seine Nummern mit viel Glanz, ausgestellter Virtuosität und Staatsbediensteten-Attitüde nimmt. Diese vergisst er nur, wenn die Töne der Leidenschaft aus ihm sprechen.

Rémy Brès-Feuillet und Yuriy Mynenko in Händels „Flavio, Re de’ Longobardi“

Auch viel erotisches Boden- und Bettenturnen

Äußerst differenziert auch die Frauen. Julia Lezhneva als gute Partie machen die Emotionsstürze von der feinen Dame bis zur am Boden Zerstörten offenbar eine Riesenfreude. Das Farbspiel ihrer tiefen Lage ist jetzt heller, die Koloraturen kristallin und manchmal angeschliffen, die Wärme etwas reduziert. Da scheint sich ein Fachwechsel in etwas härtere Primadonnen-Gefilde anzubahnen. Wunderbar anschmiegsam und berückend bis zu Händels melodischen Galanteriewaren geht Monika Jägerová als Teodata durch den Abend. Fabio Trümpy Ugone ist die zweite Vater-Autorität mit gut geführtem und gegenüber den anderen Stimmpersönlichkeiten minimal farbreduziert.

Es gibt nicht nur viel Stoff und Schaden, sondern auch viel erotisches Boden- und Bettenturnen. Man kann darüber nachdenken, ob das in der ersten halben Stunde an- und ausgehende Licht im Zuschauerraum als dramaturgische Warnleuchten vor den Folgen des Lasters, der Intrigen und der Moden zu verstehen waren. Auf alle Fälle gelang unter Cencic ein Abend mit bestens ausgewogenen Proportionen von stimmstarkem Gesang, einigen Pferdestärken an Moralgewicht und Unterhaltung bis zum Schluss. Viel Applaus einer starken Fangemeinde.

Bayreuth Baroque Opera Festival
Händel: Flavio, re de‘ Longobardi

Benjamin Bayl (Leitung & Cembalo), Max Emanuel Cencic (Regie & Guido), Helmut Stürmer (Bühne), Corina Gramosteanu (Kostüme), Romain De Lagarde (Licht), Julia Lezhneva, Yuriy Mynenko, Monika Jägerová, Rémy Brès-Feuillet, Sreten Manojlović, Fabio Trümpy, Filippa Kaye, Concerto Köln

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