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Opern-Kritik: Domstufen-Festspiele Erfurt – Nabucco

Gefangen im Hier und Heute

(Erfurt, 15.7.2022) Die Erfurter DomStufen-Festspiele zünden mit Verdis „Nabucco“ und einem mehrfach gesungenen Gefangenenchor ein gewagtes Assoziationsfeuerwerk zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine.

vonRoberto Becker,

Verdis Opern sind geeignet für Open Air. Wer schon mal erlebt hat, wie in der Arena von Verona ein Werk des großen Italieners zum Spektakel gemacht wird, der wird nicht widersprechen. In Erfurt gab es in den drei Jahrzehnten, in denen die DomStufen-Festspiele erfolgreich das Sommerloch füllen und auch Publikum anlocken, das nicht ins Opernhaus geht, auch schon Freiluft-Verdi. 2017 einen „Troubadour“ und 2012 sogar die selten gespielten „Lombarden“. „Nabucco“ war eigentlich für 2020 geplant, musste dann aber aus den leidigen Gründen verschoben werden. Nach der neuen Zeitrechnung stammen Konzept und die Grundzüge seiner Umsetzung also aus der Zeit davor; sprich vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Guy Montavon hat natürlich recht, wenn er sagt, dass man heute nicht einfach am aktuellen Kriegsgeschehen vorbei inszenieren kann. Gerade bei Opern, in denen es um mehr als nur Herz, Schmerz, Intrige und Happy End geht.

Italiens inoffizielle Nationalhymne

Dass es in Verdis „Nabucco“ „nur“ um eine biblische Geschichte geht, stimmt schon deshalb nicht, weil der Gefangenenchor als einer der bekanntesten Opernhits überhaupt (den wohl auch künftig niemand mehr vom Sockel stoßen wird, wegen seiner Nähe zum Risorgimento) zu Italiens inoffizieller Nationalhymne geworden ist. Wer einmal erlebt hat, mit welcher Inbrunst das italienische Publikum bei der „erzwungenen“ Wiederholung des „Va, pensiero“, des „Flieh, Gedanke“, dem Dirigenten folgt, wenn der sich zu ihnen umwendet, und selbst singen, der wird das nie vergessen.

Szenenbild aus „Nabucco“ bei den DomStufen-Festspielen Erfurt
Szenenbild aus „Nabucco“ bei den DomStufen-Festspielen Erfurt

Ein wahnsinnig gewordener Eroberer

Zum anderen aber hat Verdi den packenden Chor der Hebräer gerade da platziert, wo die Gefangenen erfahren, dass sie von einem wahnsinnig gewordenen Eroberer und seinem Regime vernichtet werden sollen. Hier hat der Holocaust der Nazis für eine Dimension der Assoziationen zumindest in Deutschland gesorgt, mit der man szenisch nur möglichst durchdacht umgehen sollte. Und zu der man sich, ganz gleich ob bewusst oder unbewusst, verhält.

Ein mutiger Guy Montavon

Verzagt ist Erfurts Langzeit-Intendant Guy Montavon auch als Regisseur bekanntlich nicht. Als alle nach Verbannung Anna Netrebkos von westlichen Bühnen riefen und etliche Intendanten sie eifrig „ausluden“, ließ er sie beim Erfurter „Manon Lescaut“-Gastspiel in Monte Carlo einspringen, holte sie also von ihrem selbst eingenommenen Platz zwischen allen Stühlen auf die Bühne zurück. Dass er es jetzt mit seiner „Nabucco“-Inszenierung wegen des Engagements einer aus der Ukraine geflohenen Sängerin in die inzwischen ja recht kulturabstinenten Abendnachrichten des Fernsehens geschafft hat, war klar und ist ja auch nicht verkehrt.

Szenenbild aus „Nabucco“ bei den DomStufen-Festspielen Erfurt
Szenenbild aus „Nabucco“ bei den DomStufen-Festspielen Erfurt

Ukrainische Nationalfarben

Nur landete er eben sowohl mit dem Rückgriff auf die Prometheus-Statue von Hitlers Lieblingsbildhauer Arno Breker als Baal, als auch mit seiner politischen „Nachbesserung“ des Gefangenenchores mitten in der die Gesellschaft (weniger die Medien) spaltenden Debatte, wie man die Unterstützung der Ukraine real gestalten sollte, um einen Weg aus dem Krieg zu finden. Auch in Erfurt wird der Gefangenenchor wiederholt. Einmal wird er eher besinnlich, nachdenklich gesungen. Bei Myron Michailidis und dem Philharmonischen Orchester im nicht weit entfernten Opernhaus klingt das zunächst sehr zurückgenommen. Dabei sitzen alle Choristen versonnen und fast entspannt wirkend auf der Treppe, mit denen diesmal die Domstufen von Ausstatter Peter Sykora überbaut wurden. Sie führt zunächst hinauf zu einem großen Davidstern und der Klagemauer, an der Juden beten. Nach dem Eindringen der babylonischen Eroberer, die auf den ersten Blick mit ihren schwarzen Phantasieuniformen und weißen Kahlköpfen unfreiwillig komisch wirken, ist der Stern und die Mauer zertrümmert. Jetzt thront dort oben der Breker-Götze. Wenn zu dessen Füßen der Gefangenenchor noch ein zweites Mal gesungen wird, dann sind die Fassaden von Dom und St. Severi-Kirche plötzlich in den ukrainischen Nationalfarben illuminiert.

Szenenbild aus „Nabucco“ bei den DomStufen-Festspielen Erfurt
Szenenbild aus „Nabucco“ bei den DomStufen-Festspielen Erfurt

Aktualisierung als Anregung zum Weiterdenken und Diskutieren

Als der in seiner Rache-Rhetorik selbst fundamentalistische Hohepriester der Hebräer, Zaccaria, bei seinen Rache- und Vernichtungswünschen angekommen ist, recken alle Juden auf der Bühne blaugelbe Tücher in die Höhe und stimmen ihm zu. Da das erste Zitat, das auf den Bildschirmen für die Übertitel erscheint, „Ich werde Euch alle vernichten“ Nabucco und Wladimir Putin zugeschrieben wird, ist klar, was gemeint ist. Nur, als der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski bei seiner virtuellen Tour durch die Parlamente der Welt in der Knesset den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Holocaust an den Juden verglich, erntete er – gut nachvollziehbar – empörten Widerspruch. Manches kann bzw. sollte man eben doch nicht alles vergleichen. Nabucco-Putin-Wahnsinn-Umkehr und der komplette Sieg der Überfallenen, das ist ein Assoziationsfeuerwerk von Kurzschlüssen, das hier sogar noch von einem lauten Kurzschuss, der Nabucco in letzter Sekunde niederstreckt, gekrönt wird. Dabei schiebt er gerade den Stacheldrahtzaun beiseite, der bis dahin den Bereich bis zur Klagemauer bzw. der Statue absperrte. Man mag diese Aktualisierung für plakativ und zu kurz gegriffen halten. Nimmt man sie als Anregung, dann landet man unversehens in den Debatten, die sowieso überall im Lande geführt werden.

Szenenbild aus „Nabucco“ bei den DomStufen-Festspielen Erfurt
Szenenbild aus „Nabucco“ bei den DomStufen-Festspielen Erfurt

Abigaille im Zentrum

Der Rest sind Chortableaus und bedeutungsschwangeres Eroberer-Hin-und-Her-Gelaufe. Seine fabelhafte Premieren-Abigaille Katja Pellegrino stellt Montavon dafür so gekonnt ins Zentrum, dass die zur Hochform auflaufen kann und auch vokal beeindruckt. Das gelingt auch den Ideologen, die sich auf beiden Seiten im Besitz der göttlichen Wahrheit wähnen. Kakhaber Shavidze als ein Zaccaria, der nicht davor zurückschrecken würde, Fenena (Katja Bildt) die Kehle durchzuschneiden, wenn Ismaele (Andrei Manea) sie nicht retten würde. Auf der anderen Seite beeindruckt Vittorio de Campo als Oberpriester des Baal mit kraftvoller Eloquenz.

Erfurter Erfahrung mit dem Wagnis von Freiluftoper

Mittlerweile hat die Erfurter Oper bei ihren Freiluftproduktion technisch ein Niveau erreicht, bei dem man nicht mehr auf den Event-Faktor verweisen muss, um die Preise zu rechtfertigen. Auch dem Protagonistenensemble, dem vom scheidenden Chef Andreas Ketelhut einstudierten Chor und dem Orchester merkt man an, dass sie das Wagnis von Freiluftoper nicht zum ersten Mal eingehen. Sie können es einfach! Das Publikum auf den wieder lückenlos besetzten Tribünen war (wohl auch wegen der effektvollen Handy-Schnappschüsse) zufrieden. Und darum geht‘s ja schließlich vor allem. Den Einwänden des Kritikers sei der Verweis auf die angebotenen Vorträge im Umfeld beigefügt. Im nächsten Jahr steht dann „Fausts Verdammnis“ von Hector Berlioz in der Regie von Ben Baur auf dem Programm.

Domstufen-Festspiele Erfurt
Verdi: Nabucco

Myron Michailidis (Leitung), Guy Montavon (Regie), Peter Sykora (Ausstattung, Andreas Ketelhut (Choreinstudierung), Federico Longhi, Andrei Manea, Kakhaber Shavidze, Katja Pellegrino, Katja Bildt, Vittorio de Campo, Jörg Rathmann, Stephanie Johnson, Philharmonisches Orchester Erfurt, Opernchor des Theater Erfurt

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