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OPERN-KRITIK: OPERNFESTSPIELE HEIDENHEIM – MADAMA BUTTERFLY

Die Insel der Illusionen

(Heidenheim, 4.7.2024) Festspieldirektor Marcus Bosch dirigiert seinen Puccini zur Festspieleröffnung mit Gefühl statt mit Gefühligkeit. Regisseurin Rosetta Cucchi verlegt die Handlung mit Fortune in die Gegenwart.

vonPeter Krause,

Mr. Pinkerton hat die Qual der Wahl. In vier kreisrunden Nischen, die in die Hinterbühne eingelassen sind, posieren eindeutig zweideutig vier Damen und bieten ihm die Dienstleistung ihrer Gunst an. Derlei direkte Angebote sexueller Freuden, die zum Ruf der Amsterdamer Altstadt so sehr gehören wie zu St. Pauli und seiner Herbertstraße, muss es also auch im fernen Japan geben, wie Claudia Pernigotti in ihren Kostümen und Tassilo Tesche in den wenigen, aber umso klarer sprechenden Bühnenbildelementen nahelegen.

Das Ausstattungsteam entführt Puccinis „Madama Butterfly“ in der Eröffnungspremiere der Opernfestspiele Heidenheim also aus der folkloristischen Ferne jenes Hügels oberhalb von Nagasaki um das Jahr 1900 auf geradem Wege in die Nähe unserer absoluten Gegenwart. Die „Tragedia giapponese“, die Giuseppe Giacosa und Luigi Illica in ihrem Libretto der Erzählung von John Luther Long und der Tragödie von David Belasco entliehen, rückt somit aus der Distanz und der drohenden Verniedlichung durch kitschige Kimonos, liebliche Sonnenschirme des huldvollen Damenchores und idyllische Rosenranken im Garten von Cio-Cio-San und Suzuki in die absolute Nähe des Publikums von heute.

Szenenbild zu „Madama Butterfly“
Szenenbild zu „Madama Butterfly“

Die westliche Überheblichkeit eines gut zahlenden Sextouristen trifft auf die Unterwürfigkeit einer durch ihre Armut in die Prostitution getriebenen 15-jährigen Asiatin

Rosetta Cucchi räumt mit dieser Regie-Entscheidung in Puccinis als Rührstück verschriener Oper, die bis heute indes zu seinen populärsten Titeln gehört, ein ganzes Bündel an Problemen ab. Die in den Kulturwissenschaften heute scharf kritisierte kulturelle Aneignung, die zu Puccinis Zeiten noch ohne jede kritische Fallhöhe in den Opernkanon eingehen konnte (und seine Japan-Oper „Madama Butterfly“ so sehr prägt wie die in ein noch weit ferneres Märchenchina verfrachtete „Turandot“), sie wird in Heidenheim deutlich abgemildert.

Die italienische Regisseurin muss die Japanerinnen im Stück nicht mehr zum Yellowfacing nötigen: Die Parallele des Blackfacing (durch die Verdis „Otello“ in traditionellen Inszenierungen zum Problemfall geworden ist) als stereotypische Darstellung von Personen asiatischer Abstammung durch Weiße entfällt. In den Kostümen akzentuiert Claudia Pernigotti zwar noch zwei unterschiedliche Kulturen: Pinkerton kommt im allzu amerikanischen, bunt geblümten Hawaiihemd ins Geschehen, Butterfly und die Ihren tragen stilisiert japanische Gewänder. Ja, Rosetta Cucchi lässt weiterhin zwei Kulturen aufeinandertreffen: Die westliche Überheblichkeit eines gut zahlenden Sextouristen trifft auf die Unterwürfigkeit einer durch ihre Armut in die Prostitution getriebenen 15-jährigen Asiatin.

Szenenbild zu „Madama Butterfly“
Szenenbild zu „Madama Butterfly“

Allgemeingültigkeit der tragischen Verstrickung statt kultureller Klischees

Die Regisseurin zielt indes weit mehr auf die Allgemeingültigkeit der tragischen Verstrickung denn auf das kulturelle Klischee der exotischen Erotik. Pinkerton, den Héctor Sandoval in der perfekten toxischen Mischung eines „ugly American“ mit potenter Tenorstimme zeichnet, wählt sich nicht zwingend die asiatische Femme fragile (statt einer der vier sexy Schaufensterpuppen), ihn fasziniert die unschuldige Kindfrau, die im Kokon ihrer transparenten kleinen „Casetta“ an ihrem Puppenhäuschen bastelt, in einem Aquarium voller blau eingefärbtem Wasser ein Papierschiffchen auf seine Reise in ihre Fantasie schickt, in einem gläsernen Karton eine Unzahl weißer Luftballons sammelt, die am Ende gen Himmel entschweben und vom Platzen ihrer Träume künden.

Szenenbild zu „Madama Butterfly“
Szenenbild zu „Madama Butterfly“

Radikal geschärftes Bild der Titelpartie

Olga Busuioc scheint mit dem radikal geschärften Bild der Titelpartie zunächst aber noch zu fremdeln. Denn die moldauische Sängerin nennt einen Lirico-Spinto-Sopran alter Schule ihr Eigen: Vom zartesten Pianissimo bis zu dramatischer Durchschlagskraft kennt ihre herrliche sahnige Stimme die ganz große Expansion. Busuioc singt keine Kindfrau, sondern eine Heroine. Doch sie vermag als Sängerdarstellerin dennoch zu beglaubigen, worum es der Regisseurin geht. Diese Butterfly ist eine Träumerin. Sie hängt der Illusion nach, mit dem fremden Mann eine Liebe abseits ihrer kulturellen Prägungen leben zu können, sie will lernen, was das Land, das eine koffeinhaltige Limonade erfunden hat, denn wohl im Innersten zusammenhält.

Klar: Dazu projiziert sie ihre eigene Gutartigkeit ohne Unterlass auf den Mann voller schlechter Absichten. Und sie hütet das Pfand ihrer Liebe, den gemeinsamen Sohn Dolore (sic: „Schmerz“), mit einer selten so gesehenen Innigkeit. Besonders fein ausgearbeitet wirkt das Mutter-Kind-Verhältnis. Etwas unterbelichtet scheint hingegen von der Regie die Beziehung zur Dienerin Suzuki ausgearbeitet, die Julia Rutigliano mit ihrem warmen, fülligen, geerdeten Mezzosopran ausstattet. Anrührend dafür Butterflys Begegnungen mit Konsul Sharpless, den Gerrit Illenberger mit natürlichem wie edlem Kavaliersbariton singt und als hoch sympathischen Gutmenschen in Diensten eines bösen Systems zeigt.

Szenenbild zu „Madama Butterfly“
Szenenbild zu „Madama Butterfly“

Marcus Bosch widerlegt jeglichen Kitschverdacht gegenüber Puccini

Immer stimmiger und berührender fügt sich im Laufe des Abends der von Rosetta Cucchi ins Zentrum der Inszenierung gestellte Konflikt zwischen einer ihren Puppenhaus-Träumen auf einer Insel der Illusionen nachhängenden Butterfly und einer kalten Welt des nicht zuletzt sexuellen Konsums, an dem sie tragisch scheitert. Den beiden Polen von Innen- und Außenwelt entsprechend stellt Marcus Bosch in seiner musikalischen Interpretation die sprechende Intimität des Kammerspiels und den symphonischen Breitwandsound gegenüber – bei gänzlicher Vermeidung jeglichen Kitschverdachts gegenüber der Puccini-Partitur. Die Stuttgarter Philharmoniker, in ihrer Saison sonst primär im Konzertrepertoire zu Hause, folgen dem Künstlerischen Direktor der Opernfestspiele Heidenheim mit Hingabe. So filigran wie markant ist das manische Fugato des Beginns herausgemeißelt, innig atmen die Streicher im riesigen Liebesduett am Ende des 1. Aktes, maximal ist der Spannungssog hin zur finalen Katastrophe aufgebaut. Marcus Bosch dirigiert seinen Puccini ohne Taktstock – mit viel echtem Gefühl, aber ganz ohne falsche Gefühligkeit.

Szenenbild zu „Madama Butterfly“
Szenenbild zu „Madama Butterfly“

Nur die Atmosphäre der stimmungsstarken Rittersaal-Ruine der Burg Hellenstein durfte zur Premiere von „Madama Butterfly“ nicht mitspielen. Statt unter freiem und gestirntem Himmel also wurde die erste Aufführung ins nahe gelegene Festspielhaus verlegt. Die Prognose der Temperaturen war für den Premierenabend schlichtweg zu niedrig. Die Inszenierung dürfte Open Air sogar noch stärker wirken, wenn der berühmte Summchor, den die Damen des Tschechischen Philharmonischen Chors Brünn intonieren, sich mit dem singenden Federvieh der Schwäbischen Alp vereint.

Opernfestspiele Heidenheim
Puccini: Madama Butterfly

Ausführende: Marcus Bosch (Leitung), Rosetta Cucchi (Regie), Tassilo Tesche (Bühne), Claudia Pernigotti (Kostüme), Hartmut Litzinger (Licht), Olga Busuioc, Julia Rutigliano, Theresa Romes, Héctor Sandoval, Gerrit Illenberger, Musa Nkuna, Christoph Wittman, Alexander Teliga, Daniel Di Prinzio, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn, Stuttgarter Philharmoniker

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