Er war ein junger Wilder und dennoch bediente er brav das strenge Korsett, nach der eine Oper traditionell nun mal gebaut zu sein hatte: Auf eine getragene Cavatine folgt per Rezitativ eine überraschende Nachricht von außen, die sogleich einen Stimmungsumschwung in Form einer wild bewegten Cabaletta auslöst. Doch Giuseppe Verdi dachte schon zu Beginn seiner Karriere so genuin dramatisch, dass der scheinbare Schematismus dieser Abfolge durchlässig wird. In dem auf CD-Mitschnitten für die Zukunft festgehaltenen Zyklus der frühen Opern Verdis, mit der die Opernfestspiele Heidenheim alljährlich die große Open-Air-Produktion im Festspielhaus flankieren, waren nun „I due Foscari“ an der (streng chronologischen) Reihe.
Die Cappella Aquileia musiziert maximalmotiviert auf der Stuhlkante.
Bereits mit dem Vorspiel machte Marcus Bosch am Pult des Festspielorchesters der Cappella Aquileia unmissverständlich deutlich, welch eine zukunftsweisende Partitur er da vor sich liegen hat: Da schärft er die kompositorische Aggressivität und die damit einhergehende politische Ambition des jungen Verdi durch eine ungemein sprechende Artikulation. Und er verfeinert gleichzeitig die Zwischentöne, die in den genialen melodischen Eingebungen verborgen liegen, wenn man nur genau liest, was da in den Noten steht, und wenn man denn mit den maximalmotivierten Musikerinnen und Musikern des Orchesters wirklich jedes Detail umsetzt, das der Meister aus Norditalien da ersonnen hat. Wie die Cappella Aquileia auf der Stuhlkante sitzend mit toller Neugierde musiziert, so lauscht man den handverlesenen Musizierenden wie gebannt – als ein Publikum, das endlich einmal wieder das Staunen lernen kann. Etwa über die berührenden, weich ausgehörten Klarinettensoli, die Parts von Bratschen und Celli, überhaupt das vibratobefreit sehnige Spiel der Streicher. Dies alles fügt sich durch ein agogisch sensibel ausgearbeitetes Atmen zum weit gespannten Bogen, der die einzelnen Nummern zu konsequenter dramatischer Einheit verbindet
Marcus Bosch macht den jungen Verdi vollends festspielwürdig.
Wie sich im Klangkörper der Cappella Aquileia das individuelle Können zum gemeinschaftlichen Wollen einer starken klaren Haltung gegenüber dem jungen Wilden namens Verdi verstärkt, gleicht einer musikalischen Erfüllung, die zumal der Repertoirealltag der deutschen Stadt- und Staatstheater (die Verdi meist ungeprobt auf die Bühne bringen und auf diese Weise zu oft zur Hm-Ta-Ta-Volksmusik degradieren) kaum mehr möglich macht. Marcus Bosch aber macht den jungen Verdi vollends festspielwürdig, weil er ihn wirklich mit dem Musikerkollektiv durchgearbeitet hat und nichts dem Zufall des falschen Klangklischees überlässt. Auf die Veröffentlichung der im Rahmen der Endproben und Vorstellungen aufgenommenen CD sind wir schon jetzt gespannt, um vertiefend nachzuhören, was hier zu entdecken ist, nicht zuletzt die Antizipation des mittleren Verdi: „Rigoletto“ oder „Macbeth“ klingen hier schließlich schon an, gerade in den tollen Chornummern. Der Tschechische Philharmonische Chor Brünn macht sie zum Ereignis durch seine hochdifferenzierte Aneignung, die vom zarten Flüstern bis zur machtvollen Opulenz eine fantastische Ausdrucks-, Klang und Farbpalette zu bieten hat
Eine der ersten grandiosen Vaterfiguren Verdis
Um Macht geht es nun auch in der historischen Handlung von „I due Foscari“, die im Venedig des 14. Jahrhunderts angesiedelt ist. Um eine alte Rechnung zu begleichen, intrigiert Senator Jacopo Lorendano mit massenhaft Bestechungsgeld gegen Dogenvater Francesco und dessen Sohn Jacobo Foscari, bis der Alte auf gekauften öffentlichen Druck hin abdankt und stirbt – nicht ohne zuvor noch eine ergreifende Aria finale gesungen zu haben, mit der Verdi das Portrait einer der ersten grandiosen Vaterfiguren seines in dieser Hinsicht so reichen Gesamtwerks krönte – und den Typus des Verdi-Baritons schuf, der mit seiner hohen Tessitura anspruchsvoll unbequem liegt und für deutsche Sänger eine Herausforderung darstellt. Luca Grassi indes stammt aus San Marino und hat all die flammenden Baritontöne (und das perfekte Textverständnis) für den tragischen Herrscher der Serenissima, dessen Autorität und Charisma immer mehr schwindet. Héctor Sandoval leiht dem jungen, von Intrigant Lorendano verbannten Foscari seinen sicheren, kernig metallischen Tenor. Seine Gattin Lucrezia Contarini gibt Sophie Gordeladze mit furioser Koloraturagilität, die sie enorm wandlungsfähig mit Wärme und Dramatik abmischt. Robert Pomakov als Bösewicht wünscht man dank seines wuchtig imposanten Basses mehr zu singen als die prägnant gestalteten Rezitative. Verdi gönnt der Figur indes keine eigene Arie.
Zeichenhafte Regie
Dafür wertet Philipp Westerbarkei die düstere Figur deutlich auf, die auf der Bühne des Festspielhauses omnipräsent die Fäden des Unheils zieht. Ansonsten reichen dem jungen Regisseur wenige zeichenhafte Elemente, die das venezianische Ambiente nur mehr in stilisierten Andeutungen erkennbar machen. Er akzentuiert ansonsten die Verführbarkeit der Massen, die der in konformem Schwarz gewandete Chor eindrucksvoll verkörpert; er verdeutlicht Vertreibung und Flucht mit aktuellen Bildern; und er erzählt von Verdis Lebensthema der tragischen Verquickung von privater Passion und politischer Pflicht in klaren Personenkonstellationen. Keine Nebensache dabei: Er hört auf die Musik und gibt ihr Raum.
Doppelter Schiller-Verdi in 2023
Wer das diesjährige Festival verpasst hat, kann sich bereits auf den Sommer 2023 freuen. Dann steht auf der Alb ein gleich doppelter Verdi auf dem Programm. Die Serie der Frühwerke setzt Marcus Bosch mit „Giovanna d’Arco“ fort. Und mit dem „Don Carlo“ steht eine weitere Vertonung eines Trauerspiels von Schiller im Mittelpunkt. Dazu vertraut Bosch nach dem „Tannhäuser“ erneut Georg Schmidtleitner die Inszenierung an. Und führt die Opernfestspiele Heidenheim mit Konsequenz immer weiter nach oben. Es kann kaum Zufall sein: Am Tag der Aufführung spielt sich der FC Heidenheim mit einem 3:0 an die Spitze der 2. Bundesliga.
Opernfestspiele Heidenheim
Verdi: I due Foscari
Marcus Bosch (Leitung), Philipp Westerbarkei (Regie), Tassilo Tesche (Ausstattung), Hartmut Litzinger (Licht), Stephan Knies (Dramaturgie), Luca Grassi, Héctor Sandoval, Sophie Gordeladze, Robert Pomakov, Musa Nkuna, Julia Rutigliano, Christoph Wittmann, Daniel Dropulja, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn, Cappella Aquileia
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