Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Messerscharfes Moral- und Krisenstück

Opern-Kritik: Tiroler Festspiele Erl – Die Walküre

Messerscharfes Moral- und Krisenstück

(Erl, 9.7.2022) Im österreichischen Wagner-Eldorado setzt Brigitte Fassbaender ihre hochpräzise „Ring“-Regie fort. Und Erik Nielsen macht in der phänomenalen Akustik des Passionspielhauses wirklich alles hörbar, was Wagner verlangt.

vonRoland H. Dippel,

Einhelliger Jubel auch für das zweite „Ring“-Teilstück wie zur „Rheingold“-Premiere beim Tiroler Festspiel-Sommer 2021. Brigitte Fassbaender setzt ihre hochpräzise Regie von Richard Wagners vierteiligem Bühnenfestspiel fort. Jetzt ist alles nicht mehr so farbintensiv wie zu Wagners Vorabend, in dem Kaspar Glarners Kostüme die selbsternannten Götter und Elementarwesen mit dem trügerischen Glanz aller Regenbogenfarben ausstattete. Das Geschehen verdüstert sich in der 1870 von König Ludwig II. von Bayern im Münchner Hof- und Nationaltheater zur Uraufführung angeordneten „Walküre“ mit dramatischen Abstürzen und musikalischer Leuchtkraft. Mehrfach schwillt der Applaus für das Ensemble, das Leitungsteam und das hinter der breiten Spielfläche spielende Orchester der Tiroler Festspiele Erl an. Erik Nielsen hatte einen großen Abend, nachdem die Erler Eröffnungspremiere von Rossinis „Bianca e Falliero“ als Übernahme von der Oper Frankfurt krankheitshalber abgesagt und auf den 20. Juli verschoben werden musste. Nielsen macht in der phänomenalen und Mischwirkungen begünstigenden Akustik des Passionspielhauses mit dem atemberaubend schönen Alpenpanorama alles hörbar: Blühendes Melos, harsche Gewalt und mit gleicher Intensität die vielen Schattierungen, Schwellungen und Eskalationen dazwischen. Er und das Orchester liefern Ebenbürtiges zur psychologischen Transparenz von Fassbaenders Regie. Und das Publikum weiß Bernd Loebes umsichtige Programmgestaltung zu schätzen: Von den 1500 Plätzen blieben nur wenige leer.

Selbstbefreiung nach Sendestörung

Schon vor Beginn von Wagners einleitender Sturmmusik sieht Sieglinde fern – bis zur Sendestörung durch Orchesterdonner. Eine solide Sitzgruppe für das Ehepaar Hunding und Sieglinde, ein schwarzer Schreibtisch ohne Laptop für Wotans Machtkrisen-Zentrale, wenige Erhebungen und Vertiefungen sowie elementare Licht- und Videospiele (Jan Hartmann und Bibi Abel) reichen als Ambiente für Wagners „Reinmenschliches“ und anachronistische Göttlichkeiten. Deren Aufeinanderprallen macht „Die Walküre“ zum beliebtesten Teilstück im „Ring des Nibelungen“.

Szenenbild aus „Die Walküre“
Szenenbild aus „Die Walküre“

Toxischer Tyrann

Bei Fassbaender ist der attraktive Hunding ein toxischer Tyrann, dem man eine gewisse Subtilität nicht absprechen sollte. Denn er kann küssen und tut das bei der ihm unwillig als Geliebte und Stiefelknechtin dienenden Sieglinde auch. So zeigt Hunding, wer der Herr ist im misogynen Musterhaus. Die Couchgarnitur in Gelsenkirchener Barock verrät, dass der erste „Walküre“-Akt wenige Jahre von dem ersten Erscheinen der Frauenrechtlerin Alice Schwarzer spielt. Mit langen Haaren gibt Siegmund den antibürgerlichen Rebellen und sanften Frauenversteher. Wenn er das ihm bestimmte Schwert aus dem Stamm der Esche zieht, ist das auch der erotische Gipfel seiner Vereinigung mit der Zwillingsschwester Sieglinde. Fassbaender macht aus dem Rausch eine bemerkenswert zärtliche Moralrevolution.

Szenenbild aus „Die Walküre“
Szenenbild aus „Die Walküre“

Berührende Moralrevolution

Sogar für kritische „Ring“-Erfahrene gerät das in Erl imposant und berührend. Erik Nielsen liefert dazu dunklen und wunderschönen Lyrizismus. Er bringt zum Klingen, was viele französische Komponisten um 1900 – auch Ernest Chausson im ab 23. Juli in Erl gespielten „Le roi Arthus“ – faszinieren musste. Das Orchester singt, orakelt und schwelt mit betörenden Einzel- und Gruppenmomenten. Und die Sänger in den Partien der Nachkommen des verlustreichen Siegvaters Wotan sind der im zweiten Aufzug dazukommenden Götter- und Halbgötter-Mischpoke deutlich überlegen. Anthony Robin Schneider gibt Hunding virile Kontur. Clay Hilley singt Siegmunds Monolog und die oft trompetenartig genommenen „Wälse“-Rufe mit runder Emphase. Irina Simmes‘ Sieglinde gerät zur Sensation. In idealer Kongruenz von Stimme, Spiel und Ausdruck gibt sie eine lyrische, keineswegs fragile Figur, die mit erotischer Eigeninitiative die Chance zur Selbstbefreiung ergreift – hochgradig intensiv.

Szenenbild aus „Die Walküre“
Szenenbild aus „Die Walküre“

Eiszeit-Szenen zweier Ehen

Selten erlebt man Wagners provokativen Knick zwischen jubelnder Ekstase und politischer Erstarrung mit solcher Härte. Nach der ersten Pause herrschen andere Zustände. Die Walküren unterziehen in ihrer extrovertiert genommenen Szene nackte Helden einer rituellen Totenwaschung, Brünnhilde trägt schwarzen Ledermantel. Textile Sichtvermerke an frühere „Ring-“-Meilensteine gestattet sich Kaspar Glarner manchmal. Wichtiger aber: Der Lack ist ab auf Walhall. Deshalb kommt es in Projektionen zum sichtbaren Steinrutsch. Wotan und Fricka gehen gröber und schnöder miteinander um als im „Rheingold“, in dem man Meinungsdifferenzen noch unter einer neofeudalen, da schon brüchigen Etikette ausgetragen hatte. Das Vorbildpaar leistet sich keinen Funken gegenseitiger Wertschätzung. Der Disput über Moral contra politische Zweckmäßigkeit wird zu Fassbaenders Studie über Eiszeit-Szenen in der zweiten Ehehölle dieses Dramas. Der Tod Hundings und Siegmunds entzweit Wotan und Fricka noch mehr. Nach vielen noblen Fricka-Sängerinnen der letzten Jahre gibt Claire Barnett-Jones ein Comeback der frustrierten Matrone auf verlorenem Posten, aber gesanglicher Hoheit. Simon Bailey gestaltet intensiv, wie und warum Wotan in berechtigter Endzeitstimmung bei seiner Lieblingswalküre Brünnhilde Trost und Nähe sucht. Nachdem Bailey seine fesselnde Erzählung mit einer zermalmenden Drohung krönt, will er nicht mehr zum großen Legato zurück. In der längsten Partie der „Walküre“ zelebriert er den ausdrucksstarken Niedergang. Während Baileys poröse Interpretation Absicht ist, liefert Christiane Libor als Brünnhilde lautstarke, kräftige Expression. Aus ihrem schwergewichtigen „Hojotoho“-Jauchzen hört man lange vor der Zeit die Eruptionen der „Götterdämmerung“. Das setzt sie bis zu ihrer temporären Einschläferung durch Wotan fort. In der großen Abschiedsszene mit dem geliebten Vater agiert Libor mehr fordernd als flehend. Sehr früh kommt der stumme Feuergott Loge dazu, als ob er auf den durch göttliche Fehlentscheidungen unausweichlichen Feuerzauber nur gewartet hätte. Zu den Flammen leuchten die Orchester-Pultleuchten hinter dem Schleiervorhang wie Sterne. Trotzdem endet der Abend unversöhnlich.

Szenenbild aus „Die Walküre“
Szenenbild aus „Die Walküre“

Starke Steilvorlage Richtung „Siegfried“ in 2023

Dieser massive Bruch zwischen pulsierendem Beginn und versteinerter Göttersphäre macht die Produktion zur starken Steilvorlage Richtung „Siegfried“ beim Tiroler Festspielsommer 2023. Immerhin verrieten Nielsen und Fassbaender bereits, dass sie für Wotans Opfer mehr Sympathie haben als für den zornigen alten Gott.

Tiroler Festspiele Erl
Wagner: Die Walküre

Erik Nielsen (Leitung), Brigitte Fassbaender (Regie), Kaspar Glarner (Bühne & Kostüme), Jan Hartmann (Licht), Bibi Abel (Video), Mareike Wink (Dramaturgie), Simon Bailey, Christiane Libor, Clay Hilley, Irina Simmes, Claire Barnett-Jones, Anthony Robin Schneider, Ekin Su Paker, Mojca Bitenc, Nina Tarandek, Corinna Scheurle, Anna Werle, Anna-Katharina Tonauer, Marta Herman, Ksenia Leonidova, Orchester der Tiroler Festspiele Erl

Auch interessant

Rezensionen

Klassik in Ihrer Stadt

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!