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Opern-Kritik: Tiroler Festspiele Erl – Francesca da Rimini

Sensibler Belcanto-Höhenflug ohne Sex

(Erl, 28.12.2022) Werk und Wiedergabe von Mercadantes Moritat sind in Tirol schlichtweg sensationell. Das liegt an der poetischen Kraft der Inszenierung von Hans Walter Richter wie am empfindsam erregenden Dirigat von Giuliano Carella und den famosen Sängern.

vonRoland H. Dippel,

In Donizettis „Don Pasquale“ schlägt Norina den Ritterroman einfach zu und plädiert in ihrer berühmten Arie für zeitgemäße Waffen einer Frau. Das konnte man bei der ersten Erler Winterpremiere in einer dunklen und erstaunlich melancholischen Lesart hören und sehen. Anders in Saverio Mercadantes „Francesca da Rimini“ frei nach der berühmten Episode aus dem fünften Gesang von Dantes „Göttlicher Komödie“, die als zweiter Premierenabend folgte: Da werden Francesca, geborene Da Polenta, und Paolo Malatesta (die Namensgleichheit mit dem Arzt in „Don Pasquale“ ist Zufall) bei ihrer alle Nerven bloßlegenden Lektüre der Liebesgeschichte von Lancelot und Guinevre erst zueinander in die Arme getrieben, dann deshalb getötet.

Demnächst auch an der Oper Frankfurt

Szenenbild aus „Francesca da Rimini“ bei den Tiroler Festspielen Erl
Szenenbild aus „Francesca da Rimini“ bei den Tiroler Festspielen Erl

Die historischen Quellen zu dieser legendären Moritat aus dem frühen 13. Jahrhundert sind spärlich und äußerst zweifelhaft. Erst eine Erzählung Giovanni Boccaccios wurde der Fantasien für Nachschöpfungen freisetzende Plot. Neben „Francesca da Rimini“-Opern von Riccardo Zandonai und Sergej Rachmaninow rückt nach dieser Erler Neuproduktion, die ab 26.Februar 2023 von der Oper Frankfurt mit Jessica Pratt in der Titelpartie und weitgehend gleicher Besetzung übernommen wird, Mercadantes meisterhafte Partitur hoffentlich verstärkt ins Bewusstsein. Erst 2016 wurde das zweiaktige Dramma per musica beim Festival Valle d’Itria in Martina Franca unter Fabio Luisi uraufgeführt. Nach einer konzertanten Vorstellung 2021 in Teneriffa könnten die österreichische und folgende deutsche Erstaufführungen den Erfolgsdurchbruch für das außergewöhnliche Werk bedeuten. Werk und Wiedergabe sind in Erl schlichtweg sensationell.

Fundstück aus Madrid

Szenenbild aus „Francesca da Rimini“ bei den Tiroler Festspielen Erl
Szenenbild aus „Francesca da Rimini“ bei den Tiroler Festspielen Erl

Mercadante hatte „Francesca da Rimini“ 1831 für Madrid komponiert. Die Uraufführung zerschlug sich dort wegen Uneinigkeit mit der für die Titelpartie vorgesehenen Primadonna Adelaide Tosi und wenig später ebenso an der Mailänder Scala. Elisabetta Pasquini veröffentlichte 2015 eine quellenkritische Edition, die zur posthumen Uraufführung und deren bei Dynamic als DVD und CD veröffentlichten Mitschnitten verwendet wurde. Das Erler Publikum im leider nicht ausverkauften Festspielhaus reagierte mit enthusiastischer Begeisterung. Mit gutem Grund: „Francesca da Rimini“ gehört wie Offenbachs „Die Rheinnixen“ vor 20 Jahren oder Albert Lortzings „Regina“ zu Werken, welche den ästhetischen Kenntnisstand über das Musiktheater im 19. Jahrhundert beträchtlich erweitern. Man hört, wie Vincenzo Bellini und Mercadante gleichzeitig an einer Erweiterung der musikalischen Formen operierten. Der bis 1845 führende italienische Librettist Felice Romani strebte zudem in den Konventionen der romantischen tragischen Oper eine lyrische Psychologisierung an. Es kommt es zu einer imponierenden Verdichtung des Dreieckskonflikts. Francesca nimmt am Ende Gift und Paolo stößt sich den Dolch in den Leib. Deshalb kreuzen in Hans Walter Richters Regie Francescas Gatte Lanciotto und ihr Vater Guido zum Schlussakkord die Klingen.

Erotische Traumwelten

Szenenbild aus „Francesca da Rimini“ bei den Tiroler Festspielen Erl
Szenenbild aus „Francesca da Rimini“ bei den Tiroler Festspielen Erl

Richters Inszenierung greift die Frenetik, die Exaltation und epische Breite der musikalischen Nummern mit poetischer Kraft auf. Nicht ganz einfach ist das, weil Romani und Mercadante sich mit der Einführung und Steigerung der ziemlich komplexen Figuren-Befindlichkeiten viel Zeit lassen. Johannes Leiacker setzte in seinem Symbolraum einen Hügel, in dem Schwerter stecken, neben ein Bett mit vielen Büchern und unschuldigen Lilien für die weltfremde wie traumbefangene Francesca. Raphaela Roses Kostüme imaginieren frühes 19. Jahrhundert und meinen Zeitlosigkeit. Für das Abdriften Paolos und Francescas in erotische Traumwelten entwickelt Mercadante in Gesang und Orchester schillernde Ausdrucksebenen. Zum visionären El Dorado des Liebespaars wird eine Projektion von Caspar David Friedrichs Gemälde „Abtei im Eichwald“. Drei Tänzer (Annalisa Piccolo, Bernardo Ribeiro, Gabriel Wanka) zeigen, was die Figuren wirklich denken. Im zweiten Akt ist der Vorderraum verwüstet. Die übergroßen Emotionen reißen alles in ihren zerstörerischen Strudel, sogar den unter Leitung von Olga Yanum prachtvollen Chor. Die Hauptpartien beanspruchen expansive Kondition, insbesondere Lanciotto und Francesca. Bereits in ihrem Duett geraten Lanciottos Begehren und Francescas Ausweichmanöver zum irreparablen Supergau. In Erl zeigt man, dass Lanciotto als ausgebooteter Dritter – wie später Verdis emotionale Verlierer – die spannendste Figur ist. Theo Lebow macht bravourös das Beste daraus. Eine Eisenfaust gräbt Druckmale in seinen Unterarm. So wird klar, dass das glasige Elfenwesen Francesca und der nicht hässliche, aber gefährlich markante Lanciotto wie Eis und Feuer sind. Lebow wird seit „Bianca e Falliero“ in Frankfurt und Erl noch besser. Er legt Morbidezza in die elegischen Verzierungen, ist Heros und Softie. Und er modelliert einen kantigen Charakter mit weichem Kern. Eine großartige wie sensible Leistung.

Ein Sopran voller betörendem Unschuldsschimmer

Szenenbild aus „Francesca da Rimini“ bei den Tiroler Festspielen Erl
Szenenbild aus „Francesca da Rimini“ bei den Tiroler Festspielen Erl

Als Liebespaar haben es die beiden anderen Besetzungen etwas einfacher, weil Mercadante Rossinis Vokalstrategie für Sopran und heroischen Hosenmezzo weiterdenkt und mit verblüffenden instrumentalen Zusätzen – vor allem mit Harfe, Hörnern und Klarinetten – verdichtet. Anna Nekhames ist die an der Seele kranke Hysterikerin. Sie macht mit ihrem weichen und in den Leidenshöhen noch üppiger blühenden Sopran deutlich, wie Mercadante die von religiösen und philologischen Exegeten als Verführerin gebrandmarkte Figur mit betörendem Unschuldsschimmer umflort. Ohne Sentimentalität singt Nekhames die abendfüllende Trauermine einer schönen Seele. Als ihr Vater Guido, dessen moralische Zerreißprobe recht kurz abgehandelt wird, bringt Erik van Heyningen den dafür wichtigen Nachdruck auf. Den ersten Auftritt des literaturaffinen Kriegsheimkehrers Paolo schieben Mercadante und Paolo lange hinaus. Sie gewähren dem Liebespaar erst vor der Selbstmord-Eskalation den einzigen und dafür besonders schönen Zweigesang. Karolina Makulas Paolo leuchtet und lockt wunderbar in den mittleren dynamischen Bereichen, wird vom Orchester der Tiroler Festspiele besonders intensiv umworben. Makula und Nekhames harmonieren ideal. Das ist wichtig, weil sinnliche Transzendenz in dieser Oper mehr zählt als physische Erotik.

Dreistündiger Seelenstriptease

Szenenbild aus „Francesca da Rimini“ bei den Tiroler Festspielen Erl
Szenenbild aus „Francesca da Rimini“ bei den Tiroler Festspielen Erl

Die Partitur hat nur ein Handicap: In der Signalszene folgen auf Francescas und Paolos Lektüre im Duett nur wenige durch Klarinetten befeuerte Takte, bevor das Paar in flagranti ertappt wird. Für die Regie ist dieser Kippmoment von Begehren, Zögern, Weigern, Gewähren, Hingabe und Ekstase eine schier unlösbare Aufgabe. Aber das italienische Melodramma funktioniert anders: Lanciottos, Francescas und Paolos komplizierter Seelenstriptease dauert bei Mecadante drei satte, sinnliche, schöne Stunden, zu deren Gelingen in Erl der Mercadante-erfahrene Giuliano Carella mit empfindsam erregendem Dirigat bedeutend beiträgt. Ovationen.

Tiroler Festspiele Erl
Mercadante: Francesca da Rimini

Giuliano Carella (Leitung), Hans Walter Richter (Regie), Johannes Leiacker (Bühnenbild), Raphaela Rose (Kostüme), Jan Hartmann (Licht), Olga Vanum (Chor), Gabriel Wanka (Choreographie), Mareike Wink (Dramaturgie), Anna Nekhames, Karolina Makuła, Theo Lebow, Erik van Heyningen, Karolina Bengtsson, Francisco Brito, Annalisa Piccolo, Bernardo Ribeiro, Gabriel Wanka, Chor der Tiroler Festspiele Erl, Orchester der Tiroler Festspiele Erl

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