„Mazeppa“ ist nicht nur Tschaikowskys sprödeste, sondern in eindringlichen Vorstellungen auch eine fast unerträgliche Oper. Die Beziehung zwischen dem historisch zwiespältigen Kosaken Mazeppa und der um mindestens eine Generation jüngeren Maria setzt den Vernichtungsrutsch von deren Familie in Gang. Nach der Schlacht von Poltawa 1709 mit dem Sieg Peters des Großen über die schwedischen und ukrainischen Truppen herrschen Vernichtung und geistige Umnachtung. Für die 1884 am Moskauer Bolschoi-Theater uraufgeführte Oper komponierte Tschaikowsky eine bei ihm ungewohnt harsche Musik auf der Linie historischer Katastrophen-Operndramen wie Mussorgskis „Boris Godunow“ und Prokofjews „Krieg und Frieden“.
Nur an wenigen und deshalb umso bewegenderen Stellen erfüllt Tschaikowsky hier das ihm zu Unrecht zugeschriebene Image des elegischen Melomanen. Jetzt hat Bernd Loebe dieses schwierige Stück neben zwei „Ring“-Zyklen in der Inszenierung von Brigitte Fassbaender an das Ende seiner Intendanz der Tiroler Festspiele Erl gesetzt. Die szenische und musikalische Qualität dürfte schwerlich zu überbieten sein. Auf die berstende Spannung des fast vierstündigen Opernabends folgte eine Applausexplosion für alle Beteiligten.
Aktuelles Musiktheater ohne Russland-Bashing
In der aktuellen Situation liefert der aus russischer und ukrainischer Perspektive bipolar rezipierte Kosak Mazeppa ein Dilemma: Er ist eindeutig der Verursacher der Katastrophenkette in Tschaikowskys und Viktor Burenins Textbuch nach Puschkins Gedicht „Poltava“. Weil der einflussreiche Oligarch Kotschubej seinem älteren Verbündeten die Hand seiner Tochter Maria verweigert, lässt Mazeppa Koschubej nach einem von ihm in Gang gesetzten politischen Korruptionsattentat umbringen. Auch Marias Jugendfreund Andrej kommt um. Am Ende gleitet Maria in den Wahnsinn eines harmonischen Autismus.
Da wird Tschaikowskys Musik nach exzessivem Rasen und Rattern fast kindlich. Diese Musik befeuert, bremst und beschleunigt den Hass, die Vergeltungssucht und den Vernichtungsdrang. Sie illustriert nicht, sondern treibt an. Das vom Orchester der Tiroler Festspiele mit schroffer wie opulenter Härte gesetzte Vorspiel ist ein schon vorsätzlich amorphes Stück und eröffnet Tschaikowkys raumgreifende Attacken aus beängstigenden Klangsignalen und hetzender Getriebenheit. Mit dem ersten Takt gibt Karsten Januschke diese destruktive Spannungsdichte vor, die bis zum Ende nicht nachlässt – mit kongenial kantiger Düsternis.
Gehetzte Brutalität
Ideales Musiktheater: Januschke und der südafrikanische Regisseur Matthew Wild ziehen an einem Strang. Herbert Murauers Bühne hat zwei Ebenen in einem Mauerkasten, der zugleich für die Militärattacken in Bibi Abels Videos dienlich ist. Auf diesem eskalieren dünnblütige Repräsentationsrituale und kommt es im Badezimmer zu fiesen Folterszenen. Diese gesamtgesellschaftlichen Verrohungs- und Deformationsprozesse sind weitaus mehr als die trendige Spiegelung eines „Tagesthemen“-Panoramas, Murauers Kostüme dazu gleichermaßen deutlich und unauffällig. Mit zwei Strategien dringt Wild bemerkenswert in die Tiefe.
Zum einen begründet Wild die „amour fou“ Marias zu Mazeppa als frühe Prägung. Im Vorspiel-Prolog sieht Maria als kleines Mädchen, wie ihr Vater Mazeppa vor den Ordnungshütern verbirgt und schützt. Bereits da dringen die Video-Kriegsberichte in Marias Kinderzimmer mit Spielzeug und Teddybären und in ihre Kinderfreundschaft mit dem wohlerzogenen Andrej. Wenn später alles zerstört und vernichtet, Andrej dann tot ist, wird Maria ihre mit Blut beschmierten Spielsachen auspacken.
Grandioser Chor der Tiroler Festspiele Erl
Tschaikowskys Partitur ist durchaus multiperspektivisch. Der Komponist überrascht, wenn er dem sonst sich über sein Gefühlsleben ausschweigenden Mazeppa an unerwarteter Stelle ein schwelgerisches Solo gibt. Der martialischen Zermürbung Kotschubejs bis zu dessen Hinrichtung widmet Tschaikowsky einen ganzen aufgepeitschten Akt. Der großartige Chor der Tiroler Festspiele hat nicht nur da einen angemessen großen Part zwischen Repräsentationsstatisterie und Flüchtlingsgruppe. Er und seine Leiterin Olga Yanum wurden zu Recht gefeiert wie die Solisten.
Der Sog in den Verfall
Wilds Regie distanziert sich deutlich von den historistischen Heroen-Gloriolen des 19. Jahrhunderts und möchte keine eindeutige geopolitische Zuschreibung. Gerade deshalb gelingt Wild ein äußerst differenziertes Gesellschaftspanorama. Mazeppas Schergen unterbrechen im ersten Akt ein klassisch-romantisches Tanzduett im noblen russisch-französischen Stil, wie er in der Ukraine derzeit als kolonialer Kulturimport der Sowjet-Föderation abgelehnt wird. Mazeppas Mob setzt sich gegen den schönen Schein zur Wehr und macht ihn mit gehässiger Zerstörungslust zunichte. Die aus einem quasi bürgerlichen Milieu kommende Maria zeigt sich fasziniert vom toxischen Männlichkeitsgebaren Mazeppas. Wild lässt das Ensemble nicht plakativ, sondern filigran agieren. Der Sog in den Verfall vollzieht sich dadurch noch eindrücklicher.
Bernd Loebes fulminantes Erler Finale
Die Achse zur von Bernd Loebe ebenfalls geleiteten Oper Frankfurt funktioniert auch in seinem Erler Finale phantastisch. Nach ersten großen Partien erweist sich die Mittellagen-Partie der Maria für die südafrikanische Sopranistin Nombulelo Yende als Karrieretorpedo. Es ist faszinierend, wie sie nach eher fragmentierten Melodienansätzen in die nihilistische Lyrik von Tschaikowskys perfidem Finale findet. Fast noch beeindruckender durchmisst Alexander Roslavets die scharfen Schnitte in der Partie von Marias Vater Kotschubej – den selbstgewissen Potentaten, den unter Lebensgefahr ins Grübeln kommende Machtmenschen und kurz vor der krassen Ermordung Kotschubejs blankes Elend. Mikhail Pirogov findet als Andrej schmelzende und – ebenso wichtig – martialische Töne. Gerade diese Partie gewinnt durch die ungestrichene Erler Aufführung höhere Differenzierung und Kontrastweite.
Schwierig als Figur und sängerdarstellerische Aufgabe ist die Titelpartie, weil Mazeppa wenig über sich und seine Impulse verlauten lässt: Petr Sokolov gibt ihn als drahtigen Bestager an der Schwelle vom Zenit in die Reifejahre. Weder bei seinen physischen noch bei seinen Video-Auftritten weiß man, was sich in Mazeppas Augen abspielt – die Brille nimmt er nicht einmal im Doppelbett in seiner intimsten Szene mit Maria ab. Sokolovs Bariton ist souverän, in diesem Kontext extrem kantig, abweisend und deshalb angemessen diffus. Der Mensch hinter dieser toxischen Fassade bleibt für Maria und alle anderen unsichtbar. Dennis Chmelensky gibt als Orlik einen eindrucksvollen Dumpfbacken-Schergen mit hoher Kreativität beim Schinden und Foltern, Carlos Cárdenas einen guten Referenten Iskra. In der Partie von Marias Mutter Ljubov und den von ihr aufgewerteten Kantilenen zeigt Helene Feldbauer den tragischen Absturz eines guten Lebens in Vergeltungsgier und Vernichtung – bewegend.
Musiktheater auf Höhe des Zeitgeschehens
In diesem großartigen Premierenabend kamen strategisches Konzeptdenken, Vertrauen in die Relevanz eines intelligenten Musiktheaters und ein ideales wie hoch engagiertes Ensemble zusammen. Musiktheater auf Höhe des Zeitgeschehens ist dieser „Mazeppa“ auch darin, dass er – alles andere als schöne Oper – eine positive Utopie verweigert.
Tiroler Festspiele Erl
Tschaikowsky: Mazeppa
Karsten Januschke (Leitung), Matthew Wild (Regie), Herbert Murauer (Bühne und Kostüme), Reinhard Traub (Licht), Bibi Abel (Video), Max Enderle (Dramaturgie), Christiana Stefanou (Choreografie), Petr Sokolov, Nombulelo Yende, Alexander Roslavets, Mikhail Pirogov, Dennis Chmelensky, Helene Feldbauer, Carlos Cárdenas, Ian Koziara, Anita Manolova, Julia Köhler, Calogero Failla, Chor der Tiroler Festspiele Erl, Orchester der Tiroler Festspiele Erl